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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Erscheinung das Bild der Identität aller Dinge im Absoluten, die
Stetigkeit. Alles was zu derselben gehört, die unbedeutend schei-
nenden Handlungen des Essens, Trinkens, des Aufstehens, zu Bett-
gehens, des Anlegens der Kleider und des Schmucks -- alles wird mit
der verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, wie alles andere beschrieben.
Alles ist gleich wichtig oder unwichtig, gleich groß und klein. Dadurch
vorzüglich erhebt sich die Poesie im Epos und der Dichter selbst gleich-
sam zu der Theilnahme an der göttlichen Natur, vor der das Große
und das Kleine gleich ist, und die mit ruhigem Auge, wie ein Dichter
sagt, ein Königreich und einen Ameisenhaufen zerstören sieht. Denn

5) in dem An-sich des Handelns sind alle Dinge und alle Be-
gebenheiten in gleichem Gewicht; keine wird von der andern verdrungen,
weil keine größer ist als die andere. Alles ist hier absolut, als ob
ihm nichts vorangegangen wäre, und ihm auch nichts folgen sollte.
Dasselbe also auch im Epos. Der Dichter muß mit ungetheilter Seele,
ohne Andenken des Vergangenen und ohne Voraussicht der Zukunft bei
der Gegenwart weilen, und er selbst nicht forteilen, da er auch in der
Bewegung ruht, sondern nur dem Gegenstand seine Bewegung lassen.

Endlich faßt sich alles darin zusammen, daß die Poesie oder der
Dichter über allem wie ein höheres, von nichts angerührtes Wesen
schwebe. Nur innerhalb des Umkreises, den sein Gedicht beschreibt,
stößt und drängt eins das andere, Begebenheit Begebenheit, Leiden-
schaft Leidenschaft; er selbst tritt nie in diesen Umkreis herein, und wird
dadurch zum Gott und zum vollkommensten Bild der göttlichen Natur.
Ihn drängt nichts, er läßt alles ruhig geschehen, er greift dem Lauf
der Begebenheiten nicht vor, denn er ist selbst nicht davon ergriffen;
er schaut ruhig auf alles herab, denn ihn ergreift nichts von dem, was
geschieht. Er selbst empfindet nie etwas von dem Gegenstand, und
dieser kann daher das Höchste und das Niedrigste, das Außerordent-
lichste und das Gemeinste, tragisch und komisch seyn, ohne daß er
selbst
, der Dichter, je hoch oder niedrig, tragisch oder komisch würde.
Alle Leidenschaft fällt in den Gegenstand selbst; Achilles weint und
wehklagt schmerzlich um den verlorenen Freund, Patroklos; der Dichter

Erſcheinung das Bild der Identität aller Dinge im Abſoluten, die
Stetigkeit. Alles was zu derſelben gehört, die unbedeutend ſchei-
nenden Handlungen des Eſſens, Trinkens, des Aufſtehens, zu Bett-
gehens, des Anlegens der Kleider und des Schmucks — alles wird mit
der verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, wie alles andere beſchrieben.
Alles iſt gleich wichtig oder unwichtig, gleich groß und klein. Dadurch
vorzüglich erhebt ſich die Poeſie im Epos und der Dichter ſelbſt gleich-
ſam zu der Theilnahme an der göttlichen Natur, vor der das Große
und das Kleine gleich iſt, und die mit ruhigem Auge, wie ein Dichter
ſagt, ein Königreich und einen Ameiſenhaufen zerſtören ſieht. Denn

5) in dem An-ſich des Handelns ſind alle Dinge und alle Be-
gebenheiten in gleichem Gewicht; keine wird von der andern verdrungen,
weil keine größer iſt als die andere. Alles iſt hier abſolut, als ob
ihm nichts vorangegangen wäre, und ihm auch nichts folgen ſollte.
Daſſelbe alſo auch im Epos. Der Dichter muß mit ungetheilter Seele,
ohne Andenken des Vergangenen und ohne Vorausſicht der Zukunft bei
der Gegenwart weilen, und er ſelbſt nicht forteilen, da er auch in der
Bewegung ruht, ſondern nur dem Gegenſtand ſeine Bewegung laſſen.

Endlich faßt ſich alles darin zuſammen, daß die Poeſie oder der
Dichter über allem wie ein höheres, von nichts angerührtes Weſen
ſchwebe. Nur innerhalb des Umkreiſes, den ſein Gedicht beſchreibt,
ſtößt und drängt eins das andere, Begebenheit Begebenheit, Leiden-
ſchaft Leidenſchaft; er ſelbſt tritt nie in dieſen Umkreis herein, und wird
dadurch zum Gott und zum vollkommenſten Bild der göttlichen Natur.
Ihn drängt nichts, er läßt alles ruhig geſchehen, er greift dem Lauf
der Begebenheiten nicht vor, denn er iſt ſelbſt nicht davon ergriffen;
er ſchaut ruhig auf alles herab, denn ihn ergreift nichts von dem, was
geſchieht. Er ſelbſt empfindet nie etwas von dem Gegenſtand, und
dieſer kann daher das Höchſte und das Niedrigſte, das Außerordent-
lichſte und das Gemeinſte, tragiſch und komiſch ſeyn, ohne daß er
ſelbſt
, der Dichter, je hoch oder niedrig, tragiſch oder komiſch würde.
Alle Leidenſchaft fällt in den Gegenſtand ſelbſt; Achilles weint und
wehklagt ſchmerzlich um den verlorenen Freund, Patroklos; der Dichter

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[652/0328] Erſcheinung das Bild der Identität aller Dinge im Abſoluten, die Stetigkeit. Alles was zu derſelben gehört, die unbedeutend ſchei- nenden Handlungen des Eſſens, Trinkens, des Aufſtehens, zu Bett- gehens, des Anlegens der Kleider und des Schmucks — alles wird mit der verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, wie alles andere beſchrieben. Alles iſt gleich wichtig oder unwichtig, gleich groß und klein. Dadurch vorzüglich erhebt ſich die Poeſie im Epos und der Dichter ſelbſt gleich- ſam zu der Theilnahme an der göttlichen Natur, vor der das Große und das Kleine gleich iſt, und die mit ruhigem Auge, wie ein Dichter ſagt, ein Königreich und einen Ameiſenhaufen zerſtören ſieht. Denn 5) in dem An-ſich des Handelns ſind alle Dinge und alle Be- gebenheiten in gleichem Gewicht; keine wird von der andern verdrungen, weil keine größer iſt als die andere. Alles iſt hier abſolut, als ob ihm nichts vorangegangen wäre, und ihm auch nichts folgen ſollte. Daſſelbe alſo auch im Epos. Der Dichter muß mit ungetheilter Seele, ohne Andenken des Vergangenen und ohne Vorausſicht der Zukunft bei der Gegenwart weilen, und er ſelbſt nicht forteilen, da er auch in der Bewegung ruht, ſondern nur dem Gegenſtand ſeine Bewegung laſſen. Endlich faßt ſich alles darin zuſammen, daß die Poeſie oder der Dichter über allem wie ein höheres, von nichts angerührtes Weſen ſchwebe. Nur innerhalb des Umkreiſes, den ſein Gedicht beſchreibt, ſtößt und drängt eins das andere, Begebenheit Begebenheit, Leiden- ſchaft Leidenſchaft; er ſelbſt tritt nie in dieſen Umkreis herein, und wird dadurch zum Gott und zum vollkommenſten Bild der göttlichen Natur. Ihn drängt nichts, er läßt alles ruhig geſchehen, er greift dem Lauf der Begebenheiten nicht vor, denn er iſt ſelbſt nicht davon ergriffen; er ſchaut ruhig auf alles herab, denn ihn ergreift nichts von dem, was geſchieht. Er ſelbſt empfindet nie etwas von dem Gegenſtand, und dieſer kann daher das Höchſte und das Niedrigſte, das Außerordent- lichſte und das Gemeinſte, tragiſch und komiſch ſeyn, ohne daß er ſelbſt, der Dichter, je hoch oder niedrig, tragiſch oder komiſch würde. Alle Leidenſchaft fällt in den Gegenſtand ſelbſt; Achilles weint und wehklagt ſchmerzlich um den verlorenen Freund, Patroklos; der Dichter

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/328>, abgerufen am 22.11.2024.