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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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vorgebildet ist, ist alles absoluter Anfang, aber eben deßwegen ist hier
auch kein Anfang. Das Epos, indem es absolut beginnt, constituirt
sich eben dadurch selbst zu einem gleichsam aus dem Absoluten selbst
herausgehörten Stück, das, in sich absolut, doch wieder nur Bruchstück
eines absoluten und unübersehbaren Ganzen ist, wie der Ocean, weil
er nur durch den Himmel begrenzt wird, unmittelbar an die Unendlichkeit
hinausweist. Die Ilias beginnt absolut, mit dem Vorsatz den Groll
des Achilleus zu singen, und sie ist ebenso absolut geschlossen, da kein
Grund ist, mit dem Tod des Hektor zu enden (denn bekanntlich sind
die beiden letzten Gesänge spätere Zuthaten, und auch wenn man diese
mit zu dem unter dem Namen der Ilias nun vorliegenden Ganzen
rechnet, so ist auch in ihnen kein eigentlicher Grund des Schließens).
Ebenso absolut beginnt nun die Odyssee wieder. -- Wenn man diese als
Zufälligkeit erscheinende Absolutheit, die tief im Wesen des Epos ge-
gründet ist, auffaßt, so reicht diese allein hin, die neuere Wolfsche
Ansicht des Homer nicht so fremd und unfaßlich zu finden, als sie von
den meisten gefunden wird. Sie haben sich aus den gewöhnlichen
Theorien gewisse Grundsätze über die Künstlichkeit des Epos genommen,
und können damit die Zufälligkeit nicht reimen, womit, nach ihrer
Art sich die Wolfsche Hypothese zu deuten, der Homer zusammenge-
kommen. Freilich ist diese grobe Zufälligkeit aufgehoben, sobald man
sich der Idee bemächtigt, wie ein ganzes Geschlecht einem Individuum
gleich seyn kann (wovon schon früher in der Lehre von der Mythologie
geredet war); aber auch diejenige Zufälligkeit, die in dem Entstehen der
Homerischen Gesänge wirklich gewaltet hat, trifft eben hier mit dem
Nothwendigen und der Kunst zusammen, da das Epos seiner Natur
nach sich mit einem Schein der Zufälligkeit darstellen muß. Dieß wird
weiter bestätigt durch folgende Bestimmungen.

4) Die Indifferenz gegen die Zeit muß nothwendig auch eine
Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit zur Folge haben, so daß in
der Zeit, welche das Epos begreift, alles Raum hat, das Größte
wie das Kleinste, das Unbedeutendste wie das Bedeutendste. Es ent-
steht dadurch auf eine viel vollkommenere Weise als in der gemeinen

vorgebildet iſt, iſt alles abſoluter Anfang, aber eben deßwegen iſt hier
auch kein Anfang. Das Epos, indem es abſolut beginnt, conſtituirt
ſich eben dadurch ſelbſt zu einem gleichſam aus dem Abſoluten ſelbſt
herausgehörten Stück, das, in ſich abſolut, doch wieder nur Bruchſtück
eines abſoluten und unüberſehbaren Ganzen iſt, wie der Ocean, weil
er nur durch den Himmel begrenzt wird, unmittelbar an die Unendlichkeit
hinausweist. Die Ilias beginnt abſolut, mit dem Vorſatz den Groll
des Achilleus zu ſingen, und ſie iſt ebenſo abſolut geſchloſſen, da kein
Grund iſt, mit dem Tod des Hektor zu enden (denn bekanntlich ſind
die beiden letzten Geſänge ſpätere Zuthaten, und auch wenn man dieſe
mit zu dem unter dem Namen der Ilias nun vorliegenden Ganzen
rechnet, ſo iſt auch in ihnen kein eigentlicher Grund des Schließens).
Ebenſo abſolut beginnt nun die Odyſſee wieder. — Wenn man dieſe als
Zufälligkeit erſcheinende Abſolutheit, die tief im Weſen des Epos ge-
gründet iſt, auffaßt, ſo reicht dieſe allein hin, die neuere Wolfſche
Anſicht des Homer nicht ſo fremd und unfaßlich zu finden, als ſie von
den meiſten gefunden wird. Sie haben ſich aus den gewöhnlichen
Theorien gewiſſe Grundſätze über die Künſtlichkeit des Epos genommen,
und können damit die Zufälligkeit nicht reimen, womit, nach ihrer
Art ſich die Wolfſche Hypotheſe zu deuten, der Homer zuſammenge-
kommen. Freilich iſt dieſe grobe Zufälligkeit aufgehoben, ſobald man
ſich der Idee bemächtigt, wie ein ganzes Geſchlecht einem Individuum
gleich ſeyn kann (wovon ſchon früher in der Lehre von der Mythologie
geredet war); aber auch diejenige Zufälligkeit, die in dem Entſtehen der
Homeriſchen Geſänge wirklich gewaltet hat, trifft eben hier mit dem
Nothwendigen und der Kunſt zuſammen, da das Epos ſeiner Natur
nach ſich mit einem Schein der Zufälligkeit darſtellen muß. Dieß wird
weiter beſtätigt durch folgende Beſtimmungen.

4) Die Indifferenz gegen die Zeit muß nothwendig auch eine
Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit zur Folge haben, ſo daß in
der Zeit, welche das Epos begreift, alles Raum hat, das Größte
wie das Kleinſte, das Unbedeutendſte wie das Bedeutendſte. Es ent-
ſteht dadurch auf eine viel vollkommenere Weiſe als in der gemeinen

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[651/0327] vorgebildet iſt, iſt alles abſoluter Anfang, aber eben deßwegen iſt hier auch kein Anfang. Das Epos, indem es abſolut beginnt, conſtituirt ſich eben dadurch ſelbſt zu einem gleichſam aus dem Abſoluten ſelbſt herausgehörten Stück, das, in ſich abſolut, doch wieder nur Bruchſtück eines abſoluten und unüberſehbaren Ganzen iſt, wie der Ocean, weil er nur durch den Himmel begrenzt wird, unmittelbar an die Unendlichkeit hinausweist. Die Ilias beginnt abſolut, mit dem Vorſatz den Groll des Achilleus zu ſingen, und ſie iſt ebenſo abſolut geſchloſſen, da kein Grund iſt, mit dem Tod des Hektor zu enden (denn bekanntlich ſind die beiden letzten Geſänge ſpätere Zuthaten, und auch wenn man dieſe mit zu dem unter dem Namen der Ilias nun vorliegenden Ganzen rechnet, ſo iſt auch in ihnen kein eigentlicher Grund des Schließens). Ebenſo abſolut beginnt nun die Odyſſee wieder. — Wenn man dieſe als Zufälligkeit erſcheinende Abſolutheit, die tief im Weſen des Epos ge- gründet iſt, auffaßt, ſo reicht dieſe allein hin, die neuere Wolfſche Anſicht des Homer nicht ſo fremd und unfaßlich zu finden, als ſie von den meiſten gefunden wird. Sie haben ſich aus den gewöhnlichen Theorien gewiſſe Grundſätze über die Künſtlichkeit des Epos genommen, und können damit die Zufälligkeit nicht reimen, womit, nach ihrer Art ſich die Wolfſche Hypotheſe zu deuten, der Homer zuſammenge- kommen. Freilich iſt dieſe grobe Zufälligkeit aufgehoben, ſobald man ſich der Idee bemächtigt, wie ein ganzes Geſchlecht einem Individuum gleich ſeyn kann (wovon ſchon früher in der Lehre von der Mythologie geredet war); aber auch diejenige Zufälligkeit, die in dem Entſtehen der Homeriſchen Geſänge wirklich gewaltet hat, trifft eben hier mit dem Nothwendigen und der Kunſt zuſammen, da das Epos ſeiner Natur nach ſich mit einem Schein der Zufälligkeit darſtellen muß. Dieß wird weiter beſtätigt durch folgende Beſtimmungen. 4) Die Indifferenz gegen die Zeit muß nothwendig auch eine Gleichgültigkeit in Behandlung der Zeit zur Folge haben, ſo daß in der Zeit, welche das Epos begreift, alles Raum hat, das Größte wie das Kleinſte, das Unbedeutendſte wie das Bedeutendſte. Es ent- ſteht dadurch auf eine viel vollkommenere Weiſe als in der gemeinen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/327>, abgerufen am 22.05.2024.