Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

dargestellt werden kann, die Geschichte aber irrational, unerschöpflich, ihr
verborgenes Gesetz nur in Manifestationen aussprechend, ebenso verhält
es sich mit der bildenden und der redenden Kunst. Wie in der Natur
Nothwendigkeit als das Allgemeine das Besondere beherrscht, in der
idealen Welt dagegen das Besondere entfesselt, frei zu dem Unendlichen
strebt, so in bildender und redender Kunst. Daher uns in Betrachtung
der Poesie erstens unmöglich ist, das Allgemeine so durch Construktion
fort ins Besondere zu führen, wie in der bildenden Kunst. Denn die
Besonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine,
was hier ausgesprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen
und in ganzen Massen ausgesprochen werden. Dagegen je weniger das
Allgemeine das Besondere hier gebietend bestimmt, desto mehr verlangt
zweitens das Einzelne in seiner Absolutheit dargestellt zu werden. Daher
wird die Darstellung hier mehr zur Charakteristik auch von Individuen
herabsteigen.

Uebrigens werde ich mich nicht so sehr bei dem Einzelnen, als nur
bei den Hauptsachen verweilen, und kann aus diesem Grunde auch nicht
mehr einzelne Sätze, sondern nur Ansichten im Ganzen darstellen.

Ich werde nun zuerst die Frage beantworten: wodurch wird die
Rede zur Poesie
? Es wird in dieser Frage a) von dem An-sich
der Poesie, soweit es nicht schon im Vorhergehenden bestimmt ist, b) von
den Formen die Rede seyn müssen, wodurch sich die Poesie als solche
von der Rede absondert, also vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß
u. s. w. Hierauf werden wir die besonderen in der Grundeinheit der
Poesie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht-
kunst, deren vornehmste die lyrische, epische und dramatische sind, im
Allgemeinen zu construiren haben, und dann jede dieser Gattungen ins-
besondere behandeln müssen.

Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der schönen Künste nachsieht,
findet man sie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine
sogenannte Definition von der Dichtkunst zu geben, und in denjenigen,
welche sie geben, ist nicht einmal die Form der Poesie, geschweige das
Wesen derselben ausgedrückt. Das Erste aber zur Erkenntniß der Poesie

dargeſtellt werden kann, die Geſchichte aber irrational, unerſchöpflich, ihr
verborgenes Geſetz nur in Manifeſtationen ausſprechend, ebenſo verhält
es ſich mit der bildenden und der redenden Kunſt. Wie in der Natur
Nothwendigkeit als das Allgemeine das Beſondere beherrſcht, in der
idealen Welt dagegen das Beſondere entfeſſelt, frei zu dem Unendlichen
ſtrebt, ſo in bildender und redender Kunſt. Daher uns in Betrachtung
der Poeſie erſtens unmöglich iſt, das Allgemeine ſo durch Conſtruktion
fort ins Beſondere zu führen, wie in der bildenden Kunſt. Denn die
Beſonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine,
was hier ausgeſprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen
und in ganzen Maſſen ausgeſprochen werden. Dagegen je weniger das
Allgemeine das Beſondere hier gebietend beſtimmt, deſto mehr verlangt
zweitens das Einzelne in ſeiner Abſolutheit dargeſtellt zu werden. Daher
wird die Darſtellung hier mehr zur Charakteriſtik auch von Individuen
herabſteigen.

Uebrigens werde ich mich nicht ſo ſehr bei dem Einzelnen, als nur
bei den Hauptſachen verweilen, und kann aus dieſem Grunde auch nicht
mehr einzelne Sätze, ſondern nur Anſichten im Ganzen darſtellen.

Ich werde nun zuerſt die Frage beantworten: wodurch wird die
Rede zur Poeſie
? Es wird in dieſer Frage a) von dem An-ſich
der Poeſie, ſoweit es nicht ſchon im Vorhergehenden beſtimmt iſt, b) von
den Formen die Rede ſeyn müſſen, wodurch ſich die Poeſie als ſolche
von der Rede abſondert, alſo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß
u. ſ. w. Hierauf werden wir die beſonderen in der Grundeinheit der
Poeſie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht-
kunſt, deren vornehmſte die lyriſche, epiſche und dramatiſche ſind, im
Allgemeinen zu conſtruiren haben, und dann jede dieſer Gattungen ins-
beſondere behandeln müſſen.

Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der ſchönen Künſte nachſieht,
findet man ſie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine
ſogenannte Definition von der Dichtkunſt zu geben, und in denjenigen,
welche ſie geben, iſt nicht einmal die Form der Poeſie, geſchweige das
Weſen derſelben ausgedrückt. Das Erſte aber zur Erkenntniß der Poeſie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0309" n="633"/>
darge&#x017F;tellt werden kann, die Ge&#x017F;chichte aber irrational, uner&#x017F;chöpflich, ihr<lb/>
verborgenes Ge&#x017F;etz nur in Manife&#x017F;tationen aus&#x017F;prechend, eben&#x017F;o verhält<lb/>
es &#x017F;ich mit der bildenden und der redenden Kun&#x017F;t. Wie in der Natur<lb/>
Nothwendigkeit als das Allgemeine das Be&#x017F;ondere beherr&#x017F;cht, in der<lb/>
idealen Welt dagegen das Be&#x017F;ondere entfe&#x017F;&#x017F;elt, frei zu dem Unendlichen<lb/>
&#x017F;trebt, &#x017F;o in bildender und redender Kun&#x017F;t. Daher uns in Betrachtung<lb/>
der Poe&#x017F;ie er&#x017F;tens unmöglich i&#x017F;t, das Allgemeine &#x017F;o durch Con&#x017F;truktion<lb/>
fort ins Be&#x017F;ondere zu führen, wie in der bildenden Kun&#x017F;t. Denn die<lb/>
Be&#x017F;onderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine,<lb/>
was hier ausge&#x017F;prochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen<lb/>
und in ganzen Ma&#x017F;&#x017F;en ausge&#x017F;prochen werden. Dagegen je weniger das<lb/>
Allgemeine das Be&#x017F;ondere hier gebietend be&#x017F;timmt, de&#x017F;to mehr verlangt<lb/>
zweitens das Einzelne in &#x017F;einer Ab&#x017F;olutheit darge&#x017F;tellt zu werden. Daher<lb/>
wird die Dar&#x017F;tellung hier mehr zur Charakteri&#x017F;tik auch von Individuen<lb/>
herab&#x017F;teigen.</p><lb/>
              <p>Uebrigens werde ich mich nicht &#x017F;o &#x017F;ehr bei dem Einzelnen, als nur<lb/>
bei den Haupt&#x017F;achen verweilen, und kann aus die&#x017F;em Grunde auch nicht<lb/>
mehr einzelne Sätze, &#x017F;ondern nur An&#x017F;ichten im Ganzen dar&#x017F;tellen.</p><lb/>
              <p>Ich werde nun zuer&#x017F;t die Frage beantworten: <hi rendition="#g">wodurch wird die<lb/>
Rede zur Poe&#x017F;ie</hi>? Es wird in die&#x017F;er Frage <hi rendition="#aq">a</hi>) von dem <hi rendition="#g">An-&#x017F;ich</hi><lb/>
der Poe&#x017F;ie, &#x017F;oweit es nicht &#x017F;chon im Vorhergehenden be&#x017F;timmt i&#x017F;t, <hi rendition="#aq">b</hi>) von<lb/>
den Formen die Rede &#x017F;eyn mü&#x017F;&#x017F;en, wodurch &#x017F;ich die Poe&#x017F;ie als &#x017F;olche<lb/>
von der Rede ab&#x017F;ondert, al&#x017F;o vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß<lb/>
u. &#x017F;. w. Hierauf werden wir die be&#x017F;onderen in der Grundeinheit der<lb/>
Poe&#x017F;ie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t, deren vornehm&#x017F;te die lyri&#x017F;che, epi&#x017F;che und dramati&#x017F;che &#x017F;ind, im<lb/>
Allgemeinen zu con&#x017F;truiren haben, und dann jede die&#x017F;er Gattungen ins-<lb/>
be&#x017F;ondere behandeln mü&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
              <p>Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der &#x017F;chönen Kün&#x017F;te nach&#x017F;ieht,<lb/>
findet man &#x017F;ie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine<lb/>
&#x017F;ogenannte Definition von der Dichtkun&#x017F;t zu geben, und in denjenigen,<lb/>
welche &#x017F;ie geben, i&#x017F;t nicht einmal die Form der Poe&#x017F;ie, ge&#x017F;chweige das<lb/>
We&#x017F;en der&#x017F;elben ausgedrückt. Das Er&#x017F;te aber zur Erkenntniß der Poe&#x017F;ie<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[633/0309] dargeſtellt werden kann, die Geſchichte aber irrational, unerſchöpflich, ihr verborgenes Geſetz nur in Manifeſtationen ausſprechend, ebenſo verhält es ſich mit der bildenden und der redenden Kunſt. Wie in der Natur Nothwendigkeit als das Allgemeine das Beſondere beherrſcht, in der idealen Welt dagegen das Beſondere entfeſſelt, frei zu dem Unendlichen ſtrebt, ſo in bildender und redender Kunſt. Daher uns in Betrachtung der Poeſie erſtens unmöglich iſt, das Allgemeine ſo durch Conſtruktion fort ins Beſondere zu führen, wie in der bildenden Kunſt. Denn die Beſonderheit hat hier mehr Gewalt und Freiheit. Das Allgemeine, was hier ausgeſprochen werden kann, kann daher nur mehr im Großen und in ganzen Maſſen ausgeſprochen werden. Dagegen je weniger das Allgemeine das Beſondere hier gebietend beſtimmt, deſto mehr verlangt zweitens das Einzelne in ſeiner Abſolutheit dargeſtellt zu werden. Daher wird die Darſtellung hier mehr zur Charakteriſtik auch von Individuen herabſteigen. Uebrigens werde ich mich nicht ſo ſehr bei dem Einzelnen, als nur bei den Hauptſachen verweilen, und kann aus dieſem Grunde auch nicht mehr einzelne Sätze, ſondern nur Anſichten im Ganzen darſtellen. Ich werde nun zuerſt die Frage beantworten: wodurch wird die Rede zur Poeſie? Es wird in dieſer Frage a) von dem An-ſich der Poeſie, ſoweit es nicht ſchon im Vorhergehenden beſtimmt iſt, b) von den Formen die Rede ſeyn müſſen, wodurch ſich die Poeſie als ſolche von der Rede abſondert, alſo vornehmlich vom Rhythmus, Sylbenmaß u. ſ. w. Hierauf werden wir die beſonderen in der Grundeinheit der Poeſie begriffenen Einheiten oder die Gattungen und Arten der Dicht- kunſt, deren vornehmſte die lyriſche, epiſche und dramatiſche ſind, im Allgemeinen zu conſtruiren haben, und dann jede dieſer Gattungen ins- beſondere behandeln müſſen. Wenn man die gewöhnlichen Theoretiker der ſchönen Künſte nachſieht, findet man ſie in nicht geringer Verlegenheit, einen Begriff oder eine ſogenannte Definition von der Dichtkunſt zu geben, und in denjenigen, welche ſie geben, iſt nicht einmal die Form der Poeſie, geſchweige das Weſen derſelben ausgedrückt. Das Erſte aber zur Erkenntniß der Poeſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/309
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/309>, abgerufen am 22.05.2024.