Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht als ein Seyn, sondern als Produciren erscheinen. Daher kommt
es, daß die Poesie wieder als das Wesen aller Kunst kann angesehen
werden, ungefähr so wie die Seele als das Wesen des Leibes. Allein
in der Beziehung, inwiefern nämlich Poesie das Erschaffende der
Ideen, und dadurch das Princip aller Kunst ist, war von ihr schon
in der Construktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns ge-
nommenen Methode kann also hier -- im Gegensatz mit der bildenden
Kunst -- von Poesie nur die Rede seyn, inwiefern sie selbst besondere
Kunstform, und also von der Poesie, die von dem An-sich aller Kunst
die Erscheinung ist. Allein selbst innerhalb dieser Beschränkung ist die
Poesie ein gänzlich unbegrenzter Gegenstand und unterscheidet auch da-
durch sich von der bildenden Kunst. Z. B. um nur eines anzuführen: ein
Gegensatz von Antikem und Modernem hat in der Plastik gar nicht
statt, dagegen in allen Gattungen der Poesie. Die Poesie der Alten
ist ebenso rational begrenzt, sich selbst gleich, als ihre Kunst. Dagegen
die der Neueren nach allen Seiten hin und in allen Theilen so man-
nichfaltig unbegrenzt und zum Theil irrational als es ihre Kunst über-
haupt ist. Auch dieser Charakter der Unbegrenztheit beruht darauf,
daß die Poesie die ideale Seite der Kunst, wie die Plastik die reale
ist. Denn das Ideale = das Unendliche.

Man könnte den Gegensatz des Antiken und Modernen in der eben
erwähnten Beziehung so ausdrücken: die Alten sind redend in der Plastik,
und dagegen plastisch in der Poesie. Die Rede ist der stillste und un-
mittelbarste Ausdruck der Vernunft. Jede andere Handlung hat mehr
körperlichen Antheil. Die Neueren legen in ihren Bildern den Ansdruck
in ein gewaltsames, körperliches Handeln. Die Bilder der Alten sind,
indem sie den Ausdruck der Ruhe tragen, eben dadurch redend, wahr-
haft poetisch. Dagegen sind aber die Alten selbst in der Poesie plastisch,
und drücken auf diese Weise die Verwandtschaft und innere Identität
der redenden und bildenden Kunst weit vollkommner als die Neueren aus.

Die innere Unbegrenztheit der Poesie bringt nun auch einen Unter-
schied für die wissenschaftliche Behandlung derselben mit sich. Wie
nämlich die Natur rational ist, und nach einem allgemeinen Typus

nicht als ein Seyn, ſondern als Produciren erſcheinen. Daher kommt
es, daß die Poeſie wieder als das Weſen aller Kunſt kann angeſehen
werden, ungefähr ſo wie die Seele als das Weſen des Leibes. Allein
in der Beziehung, inwiefern nämlich Poeſie das Erſchaffende der
Ideen, und dadurch das Princip aller Kunſt iſt, war von ihr ſchon
in der Conſtruktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns ge-
nommenen Methode kann alſo hier — im Gegenſatz mit der bildenden
Kunſt — von Poeſie nur die Rede ſeyn, inwiefern ſie ſelbſt beſondere
Kunſtform, und alſo von der Poeſie, die von dem An-ſich aller Kunſt
die Erſcheinung iſt. Allein ſelbſt innerhalb dieſer Beſchränkung iſt die
Poeſie ein gänzlich unbegrenzter Gegenſtand und unterſcheidet auch da-
durch ſich von der bildenden Kunſt. Z. B. um nur eines anzuführen: ein
Gegenſatz von Antikem und Modernem hat in der Plaſtik gar nicht
ſtatt, dagegen in allen Gattungen der Poeſie. Die Poeſie der Alten
iſt ebenſo rational begrenzt, ſich ſelbſt gleich, als ihre Kunſt. Dagegen
die der Neueren nach allen Seiten hin und in allen Theilen ſo man-
nichfaltig unbegrenzt und zum Theil irrational als es ihre Kunſt über-
haupt iſt. Auch dieſer Charakter der Unbegrenztheit beruht darauf,
daß die Poeſie die ideale Seite der Kunſt, wie die Plaſtik die reale
iſt. Denn das Ideale = das Unendliche.

Man könnte den Gegenſatz des Antiken und Modernen in der eben
erwähnten Beziehung ſo ausdrücken: die Alten ſind redend in der Plaſtik,
und dagegen plaſtiſch in der Poeſie. Die Rede iſt der ſtillſte und un-
mittelbarſte Ausdruck der Vernunft. Jede andere Handlung hat mehr
körperlichen Antheil. Die Neueren legen in ihren Bildern den Ansdruck
in ein gewaltſames, körperliches Handeln. Die Bilder der Alten ſind,
indem ſie den Ausdruck der Ruhe tragen, eben dadurch redend, wahr-
haft poetiſch. Dagegen ſind aber die Alten ſelbſt in der Poeſie plaſtiſch,
und drücken auf dieſe Weiſe die Verwandtſchaft und innere Identität
der redenden und bildenden Kunſt weit vollkommner als die Neueren aus.

Die innere Unbegrenztheit der Poeſie bringt nun auch einen Unter-
ſchied für die wiſſenſchaftliche Behandlung derſelben mit ſich. Wie
nämlich die Natur rational iſt, und nach einem allgemeinen Typus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0308" n="632"/>
nicht als ein Seyn, &#x017F;ondern als Produciren er&#x017F;cheinen. Daher kommt<lb/>
es, daß die Poe&#x017F;ie wieder als das <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi> aller Kun&#x017F;t kann ange&#x017F;ehen<lb/>
werden, ungefähr &#x017F;o wie die Seele als das We&#x017F;en des Leibes. Allein<lb/>
in der Beziehung, inwiefern nämlich Poe&#x017F;ie das Er&#x017F;chaffende der<lb/><hi rendition="#g">Ideen</hi>, und dadurch das Princip aller Kun&#x017F;t i&#x017F;t, war von ihr &#x017F;chon<lb/>
in der Con&#x017F;truktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns ge-<lb/>
nommenen Methode kann al&#x017F;o hier &#x2014; im Gegen&#x017F;atz mit der bildenden<lb/>
Kun&#x017F;t &#x2014; von Poe&#x017F;ie nur die Rede &#x017F;eyn, inwiefern &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">be&#x017F;ondere</hi><lb/>
Kun&#x017F;tform, und al&#x017F;o von der Poe&#x017F;ie, die von dem <hi rendition="#g">An-&#x017F;ich</hi> aller Kun&#x017F;t<lb/>
die Er&#x017F;cheinung i&#x017F;t. Allein &#x017F;elb&#x017F;t innerhalb die&#x017F;er Be&#x017F;chränkung i&#x017F;t die<lb/>
Poe&#x017F;ie ein gänzlich unbegrenzter Gegen&#x017F;tand und unter&#x017F;cheidet auch da-<lb/>
durch &#x017F;ich von der bildenden Kun&#x017F;t. Z. B. um nur eines anzuführen: ein<lb/>
Gegen&#x017F;atz von Antikem und Modernem hat in der <hi rendition="#g">Pla&#x017F;tik</hi> gar nicht<lb/>
&#x017F;tatt, dagegen in allen Gattungen der Poe&#x017F;ie. Die Poe&#x017F;ie der Alten<lb/>
i&#x017F;t eben&#x017F;o rational begrenzt, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleich, als ihre Kun&#x017F;t. Dagegen<lb/>
die der Neueren nach allen Seiten hin und in allen Theilen &#x017F;o man-<lb/>
nichfaltig unbegrenzt und zum Theil irrational als es ihre Kun&#x017F;t über-<lb/>
haupt i&#x017F;t. Auch <hi rendition="#g">die&#x017F;er</hi> Charakter der Unbegrenztheit beruht darauf,<lb/>
daß die Poe&#x017F;ie die ideale Seite der Kun&#x017F;t, wie die Pla&#x017F;tik die reale<lb/>
i&#x017F;t. Denn das Ideale = das Unendliche.</p><lb/>
              <p>Man könnte den Gegen&#x017F;atz des Antiken und Modernen in der eben<lb/>
erwähnten Beziehung &#x017F;o ausdrücken: die Alten &#x017F;ind redend in der Pla&#x017F;tik,<lb/>
und dagegen pla&#x017F;ti&#x017F;ch in der Poe&#x017F;ie. Die Rede i&#x017F;t der &#x017F;till&#x017F;te und un-<lb/>
mittelbar&#x017F;te Ausdruck der Vernunft. Jede andere Handlung hat mehr<lb/>
körperlichen Antheil. Die Neueren legen in ihren Bildern den Ansdruck<lb/>
in ein gewalt&#x017F;ames, körperliches Handeln. Die Bilder der Alten &#x017F;ind,<lb/>
indem &#x017F;ie den Ausdruck der Ruhe tragen, eben dadurch redend, wahr-<lb/>
haft poeti&#x017F;ch. Dagegen &#x017F;ind aber die Alten &#x017F;elb&#x017F;t in der Poe&#x017F;ie pla&#x017F;ti&#x017F;ch,<lb/>
und drücken auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e die Verwandt&#x017F;chaft und innere Identität<lb/>
der redenden und bildenden Kun&#x017F;t weit vollkommner als die Neueren aus.</p><lb/>
              <p>Die innere Unbegrenztheit der Poe&#x017F;ie bringt nun auch einen Unter-<lb/>
&#x017F;chied für die wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Behandlung der&#x017F;elben mit &#x017F;ich. Wie<lb/>
nämlich die Natur rational i&#x017F;t, und nach einem allgemeinen Typus<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[632/0308] nicht als ein Seyn, ſondern als Produciren erſcheinen. Daher kommt es, daß die Poeſie wieder als das Weſen aller Kunſt kann angeſehen werden, ungefähr ſo wie die Seele als das Weſen des Leibes. Allein in der Beziehung, inwiefern nämlich Poeſie das Erſchaffende der Ideen, und dadurch das Princip aller Kunſt iſt, war von ihr ſchon in der Conſtruktion der Mythologie die Rede. Nach der von uns ge- nommenen Methode kann alſo hier — im Gegenſatz mit der bildenden Kunſt — von Poeſie nur die Rede ſeyn, inwiefern ſie ſelbſt beſondere Kunſtform, und alſo von der Poeſie, die von dem An-ſich aller Kunſt die Erſcheinung iſt. Allein ſelbſt innerhalb dieſer Beſchränkung iſt die Poeſie ein gänzlich unbegrenzter Gegenſtand und unterſcheidet auch da- durch ſich von der bildenden Kunſt. Z. B. um nur eines anzuführen: ein Gegenſatz von Antikem und Modernem hat in der Plaſtik gar nicht ſtatt, dagegen in allen Gattungen der Poeſie. Die Poeſie der Alten iſt ebenſo rational begrenzt, ſich ſelbſt gleich, als ihre Kunſt. Dagegen die der Neueren nach allen Seiten hin und in allen Theilen ſo man- nichfaltig unbegrenzt und zum Theil irrational als es ihre Kunſt über- haupt iſt. Auch dieſer Charakter der Unbegrenztheit beruht darauf, daß die Poeſie die ideale Seite der Kunſt, wie die Plaſtik die reale iſt. Denn das Ideale = das Unendliche. Man könnte den Gegenſatz des Antiken und Modernen in der eben erwähnten Beziehung ſo ausdrücken: die Alten ſind redend in der Plaſtik, und dagegen plaſtiſch in der Poeſie. Die Rede iſt der ſtillſte und un- mittelbarſte Ausdruck der Vernunft. Jede andere Handlung hat mehr körperlichen Antheil. Die Neueren legen in ihren Bildern den Ansdruck in ein gewaltſames, körperliches Handeln. Die Bilder der Alten ſind, indem ſie den Ausdruck der Ruhe tragen, eben dadurch redend, wahr- haft poetiſch. Dagegen ſind aber die Alten ſelbſt in der Poeſie plaſtiſch, und drücken auf dieſe Weiſe die Verwandtſchaft und innere Identität der redenden und bildenden Kunſt weit vollkommner als die Neueren aus. Die innere Unbegrenztheit der Poeſie bringt nun auch einen Unter- ſchied für die wiſſenſchaftliche Behandlung derſelben mit ſich. Wie nämlich die Natur rational iſt, und nach einem allgemeinen Typus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/308
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/308>, abgerufen am 22.05.2024.