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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Richtigkeit und der Wahrheit der Formen ein gewisser Grad der Schönheit
aufgeopfert; die Majestät und Großheit der Formen muß eben deß-
wegen gegen die wellenförmigen Umrisse des anmuthigen Styls als Härte
erscheinen, wie auch in der Malerei selbst Raphael gegen Correggio oder
Guido Reni hart erscheinen kann. Von diesem hohen Styl ist nach
Winkelmann vorzüglich die Gruppe der Niobe ein Denkmal, und zwar
nicht sowohl wegen eines Scheins von Härte als wegen des gleichsam
unerschaffenen Begriffs der Schönheit und der hohen Einfalt, die darin
herrschend ist. Ich führe Winkelmanns Worte an zum Beweis, in
welchem Grade dieser gelehrteste aller Kenner das Höhere in der Kunst
erkannt hat. "Diese Schönheit, sagt er 1, ist wie eine nicht durch
Hülfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verstande
und in einer glücklichen Einbildung, wenn sie sich, anschauend, nahe
bis zur göttlichen Schönheit erheben könnte, erzeuget würde, in einer
so großen Einheit der Form und des Umrisses, daß sie nicht mit Mühe
gebildet, sondern wie ein Gedanke erwecket und mit einem Hauche
geblasen zu seyn scheinet."

Das rein Nothwendige oder Rhythmische der Plastik bezieht sich
auf die Schönheit der Formen und der Gestalt; der harmonische Theil
bezieht sich auf Maß und Verhältniß. Mit der Berücksichtigung der-
selben in der Kunst tritt der anmuthige oder sinnlich-schöne Styl ein,
der, wo er zugleich die rhythmische Schönheit begreift, sich unmittelbar
zur vollendeten Schönheit erhebt. Ich folge auch hier ganz den Angaben
von Winkelmann, da ich es für ganz unmöglich halte, in den Theilen
der Kunst, von welchen er gehandelt hat, höhere Principien erreichen
zu wollen. Das Ausgezeichnetste dieses Styls in Vergleich mit dem
hohen Styl ist die Anmuth oder Grazie, das sinnlich-Schöne. Hierzu
wurde erfordert, daß in der Zeichnung alles Eckige vermieden wurde,
was zuvor noch in den Werken des Polyklet und der größten Meister
herrschend war. "Die Meister des hohen Styls, sagt Winkelmann 2,
hatten die Schönheit allein in einer vollkommenen Uebereinstimmung

1 a. a. O. Bd. 5, S. 240.
2 a. a. O. Bd. 5, S. 243.

Richtigkeit und der Wahrheit der Formen ein gewiſſer Grad der Schönheit
aufgeopfert; die Majeſtät und Großheit der Formen muß eben deß-
wegen gegen die wellenförmigen Umriſſe des anmuthigen Styls als Härte
erſcheinen, wie auch in der Malerei ſelbſt Raphael gegen Correggio oder
Guido Reni hart erſcheinen kann. Von dieſem hohen Styl iſt nach
Winkelmann vorzüglich die Gruppe der Niobe ein Denkmal, und zwar
nicht ſowohl wegen eines Scheins von Härte als wegen des gleichſam
unerſchaffenen Begriffs der Schönheit und der hohen Einfalt, die darin
herrſchend iſt. Ich führe Winkelmanns Worte an zum Beweis, in
welchem Grade dieſer gelehrteſte aller Kenner das Höhere in der Kunſt
erkannt hat. „Dieſe Schönheit, ſagt er 1, iſt wie eine nicht durch
Hülfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verſtande
und in einer glücklichen Einbildung, wenn ſie ſich, anſchauend, nahe
bis zur göttlichen Schönheit erheben könnte, erzeuget würde, in einer
ſo großen Einheit der Form und des Umriſſes, daß ſie nicht mit Mühe
gebildet, ſondern wie ein Gedanke erwecket und mit einem Hauche
geblaſen zu ſeyn ſcheinet.“

Das rein Nothwendige oder Rhythmiſche der Plaſtik bezieht ſich
auf die Schönheit der Formen und der Geſtalt; der harmoniſche Theil
bezieht ſich auf Maß und Verhältniß. Mit der Berückſichtigung der-
ſelben in der Kunſt tritt der anmuthige oder ſinnlich-ſchöne Styl ein,
der, wo er zugleich die rhythmiſche Schönheit begreift, ſich unmittelbar
zur vollendeten Schönheit erhebt. Ich folge auch hier ganz den Angaben
von Winkelmann, da ich es für ganz unmöglich halte, in den Theilen
der Kunſt, von welchen er gehandelt hat, höhere Principien erreichen
zu wollen. Das Ausgezeichnetſte dieſes Styls in Vergleich mit dem
hohen Styl iſt die Anmuth oder Grazie, das ſinnlich-Schöne. Hierzu
wurde erfordert, daß in der Zeichnung alles Eckige vermieden wurde,
was zuvor noch in den Werken des Polyklet und der größten Meiſter
herrſchend war. „Die Meiſter des hohen Styls, ſagt Winkelmann 2,
hatten die Schönheit allein in einer vollkommenen Uebereinſtimmung

1 a. a. O. Bd. 5, S. 240.
2 a. a. O. Bd. 5, S. 243.
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[611/0287] Richtigkeit und der Wahrheit der Formen ein gewiſſer Grad der Schönheit aufgeopfert; die Majeſtät und Großheit der Formen muß eben deß- wegen gegen die wellenförmigen Umriſſe des anmuthigen Styls als Härte erſcheinen, wie auch in der Malerei ſelbſt Raphael gegen Correggio oder Guido Reni hart erſcheinen kann. Von dieſem hohen Styl iſt nach Winkelmann vorzüglich die Gruppe der Niobe ein Denkmal, und zwar nicht ſowohl wegen eines Scheins von Härte als wegen des gleichſam unerſchaffenen Begriffs der Schönheit und der hohen Einfalt, die darin herrſchend iſt. Ich führe Winkelmanns Worte an zum Beweis, in welchem Grade dieſer gelehrteſte aller Kenner das Höhere in der Kunſt erkannt hat. „Dieſe Schönheit, ſagt er 1, iſt wie eine nicht durch Hülfe der Sinne empfangene Idea, welche in einem hohen Verſtande und in einer glücklichen Einbildung, wenn ſie ſich, anſchauend, nahe bis zur göttlichen Schönheit erheben könnte, erzeuget würde, in einer ſo großen Einheit der Form und des Umriſſes, daß ſie nicht mit Mühe gebildet, ſondern wie ein Gedanke erwecket und mit einem Hauche geblaſen zu ſeyn ſcheinet.“ Das rein Nothwendige oder Rhythmiſche der Plaſtik bezieht ſich auf die Schönheit der Formen und der Geſtalt; der harmoniſche Theil bezieht ſich auf Maß und Verhältniß. Mit der Berückſichtigung der- ſelben in der Kunſt tritt der anmuthige oder ſinnlich-ſchöne Styl ein, der, wo er zugleich die rhythmiſche Schönheit begreift, ſich unmittelbar zur vollendeten Schönheit erhebt. Ich folge auch hier ganz den Angaben von Winkelmann, da ich es für ganz unmöglich halte, in den Theilen der Kunſt, von welchen er gehandelt hat, höhere Principien erreichen zu wollen. Das Ausgezeichnetſte dieſes Styls in Vergleich mit dem hohen Styl iſt die Anmuth oder Grazie, das ſinnlich-Schöne. Hierzu wurde erfordert, daß in der Zeichnung alles Eckige vermieden wurde, was zuvor noch in den Werken des Polyklet und der größten Meiſter herrſchend war. „Die Meiſter des hohen Styls, ſagt Winkelmann 2, hatten die Schönheit allein in einer vollkommenen Uebereinſtimmung 1 a. a. O. Bd. 5, S. 240. 2 a. a. O. Bd. 5, S. 243.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/287>, abgerufen am 22.11.2024.