Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

ihre Werke mit der größten Strenge und bis ins Kleine gehender Ge-
duld ausgeführt haben. So mußte auch jener noch herbe Styl der
Plastik vorangehen, ehe die süßen Früchte der Kunst reifen konnten.
Es war der Weg, den auch Michel Angelo in der Plastik betreten
hatte, der aber nicht verfolgt wurde. Der Anfang einer Kunst mit
leichten, schwebenden, kaum angedeuteten Zügen deutet auf einen ober-
flächlichen Kunsttrieb. Nur durch männliche, obgleich harte und stark
begrenzte Züge kann die Zeichnung zur Wahrheit und Schönheit der
Form gelangen -- (Aeschylos). -- Wohl eingerichtete Staaten fangen
mit strengen Gesetzen an und werden dadurch groß. Jener älteste Styl
der griechischen Kunst gründete sich auf ein wirkliches System von
Regeln, und war eben deßwegen, wie alles, was nach Regeln geschieht,
noch hart und unbeweglich. Der erste Schritt, sich zur Kunst und
über die Natur zu erheben, ist, daß man nicht mehr nöthig hat unmit-
telbar an diese, durch Nachahmung, zu recurriren, und daß man statt
des einzelnen und empirischen Vorbilds gleichsam den Typus der Gesetz-
mäßigkeit vor sich hat, der der Natur selbst bei der Hervorbringung zu
Grunde liegt. Ein solches System von Regeln ist gleichsam das geistige
Urbild, das nur mit dem reinen Verstande gefaßt wird. Weil es
aber doch nur ein gemachtes System ist, so entfernt sich die Kunst
dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produk-
tionen gibt. Aus diesem allerältesten und herben Styl entsprang nun
zuerst der große Styl, der nach der Darstellung Winkelmanns zwar
die Unbiegsamkeit des ersten ablegte, die Härte und jähen Absprünge
der Formen in flüssige Umrisse verwandelte, die gewaltsamen Stel-
lungen und Handlungen reifer und ruhiger machte, der aber doch da-
durch der große genannt zu werden verdient, daß das Nothwendige
und Wahre in ihm das Herrschende blieb. Nur jenes angenommene
und insofern ideale System der früheren Hervorbringungen war abge-
worfen, indeß blieb ihm im Vergleich der Weichheit und Anmuth der
späteren Werke noch das Gerade, das Rhythmische eigen, so daß selbst
von den Alten dieser Styl noch der eckigte genannt wird. In diesem
Styl sind die Werke des Phidias und Polyklet. Noch wurde der

ihre Werke mit der größten Strenge und bis ins Kleine gehender Ge-
duld ausgeführt haben. So mußte auch jener noch herbe Styl der
Plaſtik vorangehen, ehe die ſüßen Früchte der Kunſt reifen konnten.
Es war der Weg, den auch Michel Angelo in der Plaſtik betreten
hatte, der aber nicht verfolgt wurde. Der Anfang einer Kunſt mit
leichten, ſchwebenden, kaum angedeuteten Zügen deutet auf einen ober-
flächlichen Kunſttrieb. Nur durch männliche, obgleich harte und ſtark
begrenzte Züge kann die Zeichnung zur Wahrheit und Schönheit der
Form gelangen — (Aeſchylos). — Wohl eingerichtete Staaten fangen
mit ſtrengen Geſetzen an und werden dadurch groß. Jener älteſte Styl
der griechiſchen Kunſt gründete ſich auf ein wirkliches Syſtem von
Regeln, und war eben deßwegen, wie alles, was nach Regeln geſchieht,
noch hart und unbeweglich. Der erſte Schritt, ſich zur Kunſt und
über die Natur zu erheben, iſt, daß man nicht mehr nöthig hat unmit-
telbar an dieſe, durch Nachahmung, zu recurriren, und daß man ſtatt
des einzelnen und empiriſchen Vorbilds gleichſam den Typus der Geſetz-
mäßigkeit vor ſich hat, der der Natur ſelbſt bei der Hervorbringung zu
Grunde liegt. Ein ſolches Syſtem von Regeln iſt gleichſam das geiſtige
Urbild, das nur mit dem reinen Verſtande gefaßt wird. Weil es
aber doch nur ein gemachtes Syſtem iſt, ſo entfernt ſich die Kunſt
dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produk-
tionen gibt. Aus dieſem allerälteſten und herben Styl entſprang nun
zuerſt der große Styl, der nach der Darſtellung Winkelmanns zwar
die Unbiegſamkeit des erſten ablegte, die Härte und jähen Abſprünge
der Formen in flüſſige Umriſſe verwandelte, die gewaltſamen Stel-
lungen und Handlungen reifer und ruhiger machte, der aber doch da-
durch der große genannt zu werden verdient, daß das Nothwendige
und Wahre in ihm das Herrſchende blieb. Nur jenes angenommene
und inſofern ideale Syſtem der früheren Hervorbringungen war abge-
worfen, indeß blieb ihm im Vergleich der Weichheit und Anmuth der
ſpäteren Werke noch das Gerade, das Rhythmiſche eigen, ſo daß ſelbſt
von den Alten dieſer Styl noch der eckigte genannt wird. In dieſem
Styl ſind die Werke des Phidias und Polyklet. Noch wurde der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0286" n="610"/>
ihre Werke mit der größten Strenge und bis ins Kleine gehender Ge-<lb/>
duld ausgeführt haben. So mußte auch jener noch herbe Styl der<lb/>
Pla&#x017F;tik vorangehen, ehe die &#x017F;üßen Früchte der Kun&#x017F;t reifen konnten.<lb/>
Es war der Weg, den auch Michel Angelo in der Pla&#x017F;tik betreten<lb/>
hatte, der aber nicht verfolgt wurde. Der Anfang einer Kun&#x017F;t mit<lb/>
leichten, &#x017F;chwebenden, kaum angedeuteten Zügen deutet auf einen ober-<lb/>
flächlichen Kun&#x017F;ttrieb. Nur durch männliche, obgleich harte und &#x017F;tark<lb/>
begrenzte Züge kann die Zeichnung zur Wahrheit und Schönheit der<lb/>
Form gelangen &#x2014; (Ae&#x017F;chylos). &#x2014; Wohl eingerichtete Staaten fangen<lb/>
mit &#x017F;trengen Ge&#x017F;etzen an und werden dadurch groß. Jener älte&#x017F;te Styl<lb/>
der griechi&#x017F;chen Kun&#x017F;t gründete &#x017F;ich auf ein wirkliches Sy&#x017F;tem von<lb/>
Regeln, und war eben deßwegen, wie alles, was nach Regeln ge&#x017F;chieht,<lb/>
noch hart und unbeweglich. Der er&#x017F;te Schritt, &#x017F;ich zur Kun&#x017F;t und<lb/>
über die Natur zu erheben, i&#x017F;t, daß man nicht mehr nöthig hat unmit-<lb/>
telbar an die&#x017F;e, durch Nachahmung, zu recurriren, und daß man &#x017F;tatt<lb/>
des einzelnen und empiri&#x017F;chen Vorbilds gleich&#x017F;am den Typus der Ge&#x017F;etz-<lb/>
mäßigkeit vor &#x017F;ich hat, der der Natur &#x017F;elb&#x017F;t bei der Hervorbringung zu<lb/>
Grunde liegt. Ein &#x017F;olches Sy&#x017F;tem von Regeln i&#x017F;t gleich&#x017F;am das gei&#x017F;tige<lb/>
Urbild, das nur mit dem <hi rendition="#g">reinen</hi> Ver&#x017F;tande gefaßt wird. Weil es<lb/>
aber doch nur ein <hi rendition="#g">gemachtes</hi> Sy&#x017F;tem i&#x017F;t, &#x017F;o entfernt &#x017F;ich die Kun&#x017F;t<lb/>
dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produk-<lb/>
tionen gibt. Aus die&#x017F;em allerälte&#x017F;ten und herben Styl ent&#x017F;prang nun<lb/>
zuer&#x017F;t der <hi rendition="#g">große</hi> Styl, der nach der Dar&#x017F;tellung Winkelmanns zwar<lb/>
die Unbieg&#x017F;amkeit des er&#x017F;ten ablegte, die Härte und jähen Ab&#x017F;prünge<lb/>
der Formen in flü&#x017F;&#x017F;ige Umri&#x017F;&#x017F;e verwandelte, die gewalt&#x017F;amen Stel-<lb/>
lungen und Handlungen reifer und ruhiger machte, der aber doch da-<lb/>
durch der große genannt zu werden verdient, daß das Nothwendige<lb/>
und Wahre in ihm das Herr&#x017F;chende blieb. Nur jenes angenommene<lb/>
und in&#x017F;ofern ideale Sy&#x017F;tem der früheren Hervorbringungen war abge-<lb/>
worfen, indeß blieb ihm im Vergleich der Weichheit und Anmuth der<lb/>
&#x017F;päteren Werke noch das Gerade, das Rhythmi&#x017F;che eigen, &#x017F;o daß &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
von den Alten die&#x017F;er Styl noch der eckigte genannt wird. In die&#x017F;em<lb/>
Styl &#x017F;ind die Werke des Phidias und Polyklet. Noch wurde der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[610/0286] ihre Werke mit der größten Strenge und bis ins Kleine gehender Ge- duld ausgeführt haben. So mußte auch jener noch herbe Styl der Plaſtik vorangehen, ehe die ſüßen Früchte der Kunſt reifen konnten. Es war der Weg, den auch Michel Angelo in der Plaſtik betreten hatte, der aber nicht verfolgt wurde. Der Anfang einer Kunſt mit leichten, ſchwebenden, kaum angedeuteten Zügen deutet auf einen ober- flächlichen Kunſttrieb. Nur durch männliche, obgleich harte und ſtark begrenzte Züge kann die Zeichnung zur Wahrheit und Schönheit der Form gelangen — (Aeſchylos). — Wohl eingerichtete Staaten fangen mit ſtrengen Geſetzen an und werden dadurch groß. Jener älteſte Styl der griechiſchen Kunſt gründete ſich auf ein wirkliches Syſtem von Regeln, und war eben deßwegen, wie alles, was nach Regeln geſchieht, noch hart und unbeweglich. Der erſte Schritt, ſich zur Kunſt und über die Natur zu erheben, iſt, daß man nicht mehr nöthig hat unmit- telbar an dieſe, durch Nachahmung, zu recurriren, und daß man ſtatt des einzelnen und empiriſchen Vorbilds gleichſam den Typus der Geſetz- mäßigkeit vor ſich hat, der der Natur ſelbſt bei der Hervorbringung zu Grunde liegt. Ein ſolches Syſtem von Regeln iſt gleichſam das geiſtige Urbild, das nur mit dem reinen Verſtande gefaßt wird. Weil es aber doch nur ein gemachtes Syſtem iſt, ſo entfernt ſich die Kunſt dadurch von der Art der Wahrheit, welche die Natur ihren Produk- tionen gibt. Aus dieſem allerälteſten und herben Styl entſprang nun zuerſt der große Styl, der nach der Darſtellung Winkelmanns zwar die Unbiegſamkeit des erſten ablegte, die Härte und jähen Abſprünge der Formen in flüſſige Umriſſe verwandelte, die gewaltſamen Stel- lungen und Handlungen reifer und ruhiger machte, der aber doch da- durch der große genannt zu werden verdient, daß das Nothwendige und Wahre in ihm das Herrſchende blieb. Nur jenes angenommene und inſofern ideale Syſtem der früheren Hervorbringungen war abge- worfen, indeß blieb ihm im Vergleich der Weichheit und Anmuth der ſpäteren Werke noch das Gerade, das Rhythmiſche eigen, ſo daß ſelbſt von den Alten dieſer Styl noch der eckigte genannt wird. In dieſem Styl ſind die Werke des Phidias und Polyklet. Noch wurde der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/286
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/286>, abgerufen am 22.05.2024.