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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Gestalt als eines Bilds des Universums offenbar. Wie das Universum
nach außen nur die vollkommene Harmonie, das Gleichgewicht seiner
Gestalt und den Rhythmus seiner Bewegungen erkennen läßt, und da-
gegen die geheimen Triebfedern des Lebens verborgen, die Werkstätte
der Zubereitung und Hervorbringung nach innen gebracht sind, so auch
in dem menschlichen Leib. -- Das Muskelsystem läßt den Leib äußer-
lich nur als ein geschlossenes System von Bewegungen erkennen, es ist
dadurch Symbol des allgemeinen Weltbaus. Die Werkzeuge der Assi-
milation aber wie die Triebfedern der Bewegung in diesem System
sind verborgen; ja in den Göttergestalten ist sogar alle Spur von Adern
und Nerven aufgehoben. Diese Beziehung ist der Grund von der
Wichtigkeit des Muskelsystems in der Malerei, und vorzüglich in der
Plastik. Man mag nun das Muskelsystem mit dem System der allge-
meinen Bewegung der Weltkörper, oder, wie Winkelmann einmal thut,
mit einer Landschaft, oder etwa mit der Ruhe und Bewegung zugleich,
die die stille Fläche des Meeres beständig zeigt, vergleichen, so bleibt
immer dieselbe Beziehung. In den Betrachtungen einer schönen Land-
schaft erkennen wir auch nur die Wirkungen, ohne die inneren Ursachen
und die fortwährend thätigen Triebfedern der Bildung zu erkennen; wir
ergötzen uns an dem äußerlich dargelegten Gleichgewicht der inneren
Kräfte. Ebenso im Muskularsystem. Winkelmann in der Beschrei-
bung des schönen Torso vom Herkules 1 sagt: "Ich sehe hier den vor-
nehmsten Bau der Gebeine dieses Leibes, den Ursprung der Muskeln
und den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieses alles zeigt sich
wie eine von der Höhe der Berge entdeckete Landschaft, über welche die
Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegossen.
So wie die lustigen Höhen derselben sich mit einem sanften Abhang in
gesenkte Thäler verlieren, die hier sich schmälern und dort erweitern:
so mannichfaltig, prächtig und schön erheben sich hier schwellende Hügel
von Muskeln, um welche sich oft unmerkliche Tiefen gleich dem Strome
des Mäander krümmen, die weniger dem Gesichte als dem Gefühl

1 a. a. O. Bd. 1, S. 273.

Geſtalt als eines Bilds des Univerſums offenbar. Wie das Univerſum
nach außen nur die vollkommene Harmonie, das Gleichgewicht ſeiner
Geſtalt und den Rhythmus ſeiner Bewegungen erkennen läßt, und da-
gegen die geheimen Triebfedern des Lebens verborgen, die Werkſtätte
der Zubereitung und Hervorbringung nach innen gebracht ſind, ſo auch
in dem menſchlichen Leib. — Das Muskelſyſtem läßt den Leib äußer-
lich nur als ein geſchloſſenes Syſtem von Bewegungen erkennen, es iſt
dadurch Symbol des allgemeinen Weltbaus. Die Werkzeuge der Aſſi-
milation aber wie die Triebfedern der Bewegung in dieſem Syſtem
ſind verborgen; ja in den Göttergeſtalten iſt ſogar alle Spur von Adern
und Nerven aufgehoben. Dieſe Beziehung iſt der Grund von der
Wichtigkeit des Muskelſyſtems in der Malerei, und vorzüglich in der
Plaſtik. Man mag nun das Muskelſyſtem mit dem Syſtem der allge-
meinen Bewegung der Weltkörper, oder, wie Winkelmann einmal thut,
mit einer Landſchaft, oder etwa mit der Ruhe und Bewegung zugleich,
die die ſtille Fläche des Meeres beſtändig zeigt, vergleichen, ſo bleibt
immer dieſelbe Beziehung. In den Betrachtungen einer ſchönen Land-
ſchaft erkennen wir auch nur die Wirkungen, ohne die inneren Urſachen
und die fortwährend thätigen Triebfedern der Bildung zu erkennen; wir
ergötzen uns an dem äußerlich dargelegten Gleichgewicht der inneren
Kräfte. Ebenſo im Muskularſyſtem. Winkelmann in der Beſchrei-
bung des ſchönen Torſo vom Herkules 1 ſagt: „Ich ſehe hier den vor-
nehmſten Bau der Gebeine dieſes Leibes, den Urſprung der Muskeln
und den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieſes alles zeigt ſich
wie eine von der Höhe der Berge entdeckete Landſchaft, über welche die
Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegoſſen.
So wie die luſtigen Höhen derſelben ſich mit einem ſanften Abhang in
geſenkte Thäler verlieren, die hier ſich ſchmälern und dort erweitern:
ſo mannichfaltig, prächtig und ſchön erheben ſich hier ſchwellende Hügel
von Muskeln, um welche ſich oft unmerkliche Tiefen gleich dem Strome
des Mäander krümmen, die weniger dem Geſichte als dem Gefühl

1 a. a. O. Bd. 1, S. 273.
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[607/0283] Geſtalt als eines Bilds des Univerſums offenbar. Wie das Univerſum nach außen nur die vollkommene Harmonie, das Gleichgewicht ſeiner Geſtalt und den Rhythmus ſeiner Bewegungen erkennen läßt, und da- gegen die geheimen Triebfedern des Lebens verborgen, die Werkſtätte der Zubereitung und Hervorbringung nach innen gebracht ſind, ſo auch in dem menſchlichen Leib. — Das Muskelſyſtem läßt den Leib äußer- lich nur als ein geſchloſſenes Syſtem von Bewegungen erkennen, es iſt dadurch Symbol des allgemeinen Weltbaus. Die Werkzeuge der Aſſi- milation aber wie die Triebfedern der Bewegung in dieſem Syſtem ſind verborgen; ja in den Göttergeſtalten iſt ſogar alle Spur von Adern und Nerven aufgehoben. Dieſe Beziehung iſt der Grund von der Wichtigkeit des Muskelſyſtems in der Malerei, und vorzüglich in der Plaſtik. Man mag nun das Muskelſyſtem mit dem Syſtem der allge- meinen Bewegung der Weltkörper, oder, wie Winkelmann einmal thut, mit einer Landſchaft, oder etwa mit der Ruhe und Bewegung zugleich, die die ſtille Fläche des Meeres beſtändig zeigt, vergleichen, ſo bleibt immer dieſelbe Beziehung. In den Betrachtungen einer ſchönen Land- ſchaft erkennen wir auch nur die Wirkungen, ohne die inneren Urſachen und die fortwährend thätigen Triebfedern der Bildung zu erkennen; wir ergötzen uns an dem äußerlich dargelegten Gleichgewicht der inneren Kräfte. Ebenſo im Muskularſyſtem. Winkelmann in der Beſchrei- bung des ſchönen Torſo vom Herkules 1 ſagt: „Ich ſehe hier den vor- nehmſten Bau der Gebeine dieſes Leibes, den Urſprung der Muskeln und den Grund ihrer Lage und Bewegung, und dieſes alles zeigt ſich wie eine von der Höhe der Berge entdeckete Landſchaft, über welche die Natur den mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheiten ausgegoſſen. So wie die luſtigen Höhen derſelben ſich mit einem ſanften Abhang in geſenkte Thäler verlieren, die hier ſich ſchmälern und dort erweitern: ſo mannichfaltig, prächtig und ſchön erheben ſich hier ſchwellende Hügel von Muskeln, um welche ſich oft unmerkliche Tiefen gleich dem Strome des Mäander krümmen, die weniger dem Geſichte als dem Gefühl 1 a. a. O. Bd. 1, S. 273.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/283>, abgerufen am 25.11.2024.