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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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ist dieses für sie als höhere Kunst eine objektive Identität des Sub-
jektiven und Objektiven, des Begriffs und des Dings, und demnach
etwas, das an sich Realität hat.

Obgleich die gewöhnliche Vorstellung von der Architektur als Kunst
als einer beständigen Nachahmung, der Baukunst als Kunst des Be-
dürfnisses nicht eben auf diese Weise abgeleitet zu werden pflegt, so
muß doch dieß Raisonnement ihr zu Grunde gelegt werden, wenn sie
überhaupt begründet seyn soll.

Ich werde diese Ansicht in der Folge mehr im Detail angeben;
vorjetzt genügt es, sie im Allgemeinen zu kennen. Um es kurz zu
sagen, so sind alle scheinbar-freien Formen der Architektur, von denen
niemand leugnet, daß ihnen eine Schönheit an sich zukomme, nach
dieser Ansicht Nachahmungen der Formen der roheren Baukunst und
insbesondere der Baukunst mit Holz als der einfachsten, und die am
wenigsten Bearbeitung erfordert, z. B. die Säulen der schönen Bau-
kunst Baumstämmen nachgebildet, die auf die Erde gestellt wurden, um
das Dach der ersten Wohnungen zu tragen. Beim ersten Entstehen
war diese Form Sache des Bedürfnisses; nachher, da sie durch freie
Kunst und Bearbeitung nachgeahmt wurde, erhob sie sich zu einer
Kunstform. Die Triglyphen der dorischen Säulen-Ordnung, sagt man,
waren ursprünglich die hervorsehenden Köpfe der Querbalken, nachher
wurde der Schein davon ohne die Realität beibehalten, wodurch also
diese Form gleichfalls zu einer freien Kunstform wurde.

Dieß mag indessen hinreichend seyn, diese Ansicht im Allgemeinen
zu kennen.

Was an dieser Meinung wahr ist, fällt auf den ersten Blick ins
Auge, nämlich daß die Architektur als schöne Kunst von sich selbst als
Kunst des Bedürfnisses die Potenz seyn, oder sich selbst als solche zur
Form, zum Leib nehmen muß, um eine unabhängige Kunst zu seyn.
Dieß ist auch von uns bereits behauptet worden. Allein eben wie die
Form, deren die Baukunst als Handwerk bedurfte, unmittelbar durch
die freie Nachahmung oder Parodie -- durch diesen Uebergang vom
Realen zum Idealen selbst eine an sich schöne Form werden könne:

iſt dieſes für ſie als höhere Kunſt eine objektive Identität des Sub-
jektiven und Objektiven, des Begriffs und des Dings, und demnach
etwas, das an ſich Realität hat.

Obgleich die gewöhnliche Vorſtellung von der Architektur als Kunſt
als einer beſtändigen Nachahmung, der Baukunſt als Kunſt des Be-
dürfniſſes nicht eben auf dieſe Weiſe abgeleitet zu werden pflegt, ſo
muß doch dieß Raiſonnement ihr zu Grunde gelegt werden, wenn ſie
überhaupt begründet ſeyn ſoll.

Ich werde dieſe Anſicht in der Folge mehr im Detail angeben;
vorjetzt genügt es, ſie im Allgemeinen zu kennen. Um es kurz zu
ſagen, ſo ſind alle ſcheinbar-freien Formen der Architektur, von denen
niemand leugnet, daß ihnen eine Schönheit an ſich zukomme, nach
dieſer Anſicht Nachahmungen der Formen der roheren Baukunſt und
insbeſondere der Baukunſt mit Holz als der einfachſten, und die am
wenigſten Bearbeitung erfordert, z. B. die Säulen der ſchönen Bau-
kunſt Baumſtämmen nachgebildet, die auf die Erde geſtellt wurden, um
das Dach der erſten Wohnungen zu tragen. Beim erſten Entſtehen
war dieſe Form Sache des Bedürfniſſes; nachher, da ſie durch freie
Kunſt und Bearbeitung nachgeahmt wurde, erhob ſie ſich zu einer
Kunſtform. Die Triglyphen der doriſchen Säulen-Ordnung, ſagt man,
waren urſprünglich die hervorſehenden Köpfe der Querbalken, nachher
wurde der Schein davon ohne die Realität beibehalten, wodurch alſo
dieſe Form gleichfalls zu einer freien Kunſtform wurde.

Dieß mag indeſſen hinreichend ſeyn, dieſe Anſicht im Allgemeinen
zu kennen.

Was an dieſer Meinung wahr iſt, fällt auf den erſten Blick ins
Auge, nämlich daß die Architektur als ſchöne Kunſt von ſich ſelbſt als
Kunſt des Bedürfniſſes die Potenz ſeyn, oder ſich ſelbſt als ſolche zur
Form, zum Leib nehmen muß, um eine unabhängige Kunſt zu ſeyn.
Dieß iſt auch von uns bereits behauptet worden. Allein eben wie die
Form, deren die Baukunſt als Handwerk bedurfte, unmittelbar durch
die freie Nachahmung oder Parodie — durch dieſen Uebergang vom
Realen zum Idealen ſelbſt eine an ſich ſchöne Form werden könne:

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[579/0255] iſt dieſes für ſie als höhere Kunſt eine objektive Identität des Sub- jektiven und Objektiven, des Begriffs und des Dings, und demnach etwas, das an ſich Realität hat. Obgleich die gewöhnliche Vorſtellung von der Architektur als Kunſt als einer beſtändigen Nachahmung, der Baukunſt als Kunſt des Be- dürfniſſes nicht eben auf dieſe Weiſe abgeleitet zu werden pflegt, ſo muß doch dieß Raiſonnement ihr zu Grunde gelegt werden, wenn ſie überhaupt begründet ſeyn ſoll. Ich werde dieſe Anſicht in der Folge mehr im Detail angeben; vorjetzt genügt es, ſie im Allgemeinen zu kennen. Um es kurz zu ſagen, ſo ſind alle ſcheinbar-freien Formen der Architektur, von denen niemand leugnet, daß ihnen eine Schönheit an ſich zukomme, nach dieſer Anſicht Nachahmungen der Formen der roheren Baukunſt und insbeſondere der Baukunſt mit Holz als der einfachſten, und die am wenigſten Bearbeitung erfordert, z. B. die Säulen der ſchönen Bau- kunſt Baumſtämmen nachgebildet, die auf die Erde geſtellt wurden, um das Dach der erſten Wohnungen zu tragen. Beim erſten Entſtehen war dieſe Form Sache des Bedürfniſſes; nachher, da ſie durch freie Kunſt und Bearbeitung nachgeahmt wurde, erhob ſie ſich zu einer Kunſtform. Die Triglyphen der doriſchen Säulen-Ordnung, ſagt man, waren urſprünglich die hervorſehenden Köpfe der Querbalken, nachher wurde der Schein davon ohne die Realität beibehalten, wodurch alſo dieſe Form gleichfalls zu einer freien Kunſtform wurde. Dieß mag indeſſen hinreichend ſeyn, dieſe Anſicht im Allgemeinen zu kennen. Was an dieſer Meinung wahr iſt, fällt auf den erſten Blick ins Auge, nämlich daß die Architektur als ſchöne Kunſt von ſich ſelbſt als Kunſt des Bedürfniſſes die Potenz ſeyn, oder ſich ſelbſt als ſolche zur Form, zum Leib nehmen muß, um eine unabhängige Kunſt zu ſeyn. Dieß iſt auch von uns bereits behauptet worden. Allein eben wie die Form, deren die Baukunſt als Handwerk bedurfte, unmittelbar durch die freie Nachahmung oder Parodie — durch dieſen Uebergang vom Realen zum Idealen ſelbſt eine an ſich ſchöne Form werden könne:

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/255>, abgerufen am 21.05.2024.