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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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indem der, welcher sie innehat, mit leichter Mühe z. B. ein Quadrat
als Trapezium, einen Cirkel als Ellipse erscheinen lassen kann. Ueber-
haupt hilft sie, von den Gegenständen gerade die schönsten Theile und
die größten Massen zu zeigen, das Mindergefällige oder das Kleinliche
zu verbergen. Dieser freie Gebrauch muß übrigens nie soweit ausge-
dehnt werden, daß durch die Perspektive allein das Angenehme gesucht,
und die Strenge der Nothwendigkeit, das, worin sich die tiefste Kunst
der Zeichnung äußern müßte, umgangen wird.

Da die Zeichnung und Malerei zunächst auf Darstellung der For-
men
geht, und die Bedingung des Schönen, obgleich allerdings nicht
die Vollendung des Schönen selbst, die Wohlgefälligkeit ist, so muß
diese in der Zeichnung so weit gesucht werden, als sie den höheren For-
derungen der Wahrheit und Richtigkeit keinen Eintrag thut. Der vor-
züglich, ja der fast einzig würdige Gegenstand der bildenden Kunst ist
die menschliche Gestalt. Wie der Organismus innerlich und seinem
Wesen nach die sich aus sich selbst erzeugende und in sich zurückkehrende
Succession ist, so drückt er diese Form auch äußerlich aus durch die
Herrschaft der elliptischen, parabolischen und anderer Formen, welche
am meisten die Differenz in der Identität ausdrücken. In der Zeich-
nung wird gefordert, daß die einförmigen, sich immer wiederholenden
Formen selbst bei geringeren Gegenständen vermieden werden, als ob
der Künstler auch hier das Symbol der organischen Gestalt vor sich
haben müßte. Sich selbst beständig wiederholende Formen sind die
viereckigten, weil sie aus vier Linien bestehen, von welchen immer zwei
und zwei einander parallel sind, aber nicht minder die vollkommen
runden, weil sie von allen Seiten betrachtet immer die nämlichen
sind. Das Oval und die Ellipsen drücken in der Identität noch Diffe-
renz und Mannichfaltigkeit aus. Unter den regelmäßigen Figuren ist
aus gleichem Grunde das Dreieck noch die am wenigsten mißfällige,
weil die Winkel der Anzahl nach ungleich sind, und die Linien keine
Parallele bilden. Eine Forderung der Zeichnung ist also, soviel möglich
jede Wiederholung von Formen, jede Parallele, Winkel von gleichen
Graden, vorzüglich aber rechte Winkel zu vermeiden, weil in diesen

indem der, welcher ſie innehat, mit leichter Mühe z. B. ein Quadrat
als Trapezium, einen Cirkel als Ellipſe erſcheinen laſſen kann. Ueber-
haupt hilft ſie, von den Gegenſtänden gerade die ſchönſten Theile und
die größten Maſſen zu zeigen, das Mindergefällige oder das Kleinliche
zu verbergen. Dieſer freie Gebrauch muß übrigens nie ſoweit ausge-
dehnt werden, daß durch die Perſpektive allein das Angenehme geſucht,
und die Strenge der Nothwendigkeit, das, worin ſich die tiefſte Kunſt
der Zeichnung äußern müßte, umgangen wird.

Da die Zeichnung und Malerei zunächſt auf Darſtellung der For-
men
geht, und die Bedingung des Schönen, obgleich allerdings nicht
die Vollendung des Schönen ſelbſt, die Wohlgefälligkeit iſt, ſo muß
dieſe in der Zeichnung ſo weit geſucht werden, als ſie den höheren For-
derungen der Wahrheit und Richtigkeit keinen Eintrag thut. Der vor-
züglich, ja der faſt einzig würdige Gegenſtand der bildenden Kunſt iſt
die menſchliche Geſtalt. Wie der Organismus innerlich und ſeinem
Weſen nach die ſich aus ſich ſelbſt erzeugende und in ſich zurückkehrende
Succeſſion iſt, ſo drückt er dieſe Form auch äußerlich aus durch die
Herrſchaft der elliptiſchen, paraboliſchen und anderer Formen, welche
am meiſten die Differenz in der Identität ausdrücken. In der Zeich-
nung wird gefordert, daß die einförmigen, ſich immer wiederholenden
Formen ſelbſt bei geringeren Gegenſtänden vermieden werden, als ob
der Künſtler auch hier das Symbol der organiſchen Geſtalt vor ſich
haben müßte. Sich ſelbſt beſtändig wiederholende Formen ſind die
viereckigten, weil ſie aus vier Linien beſtehen, von welchen immer zwei
und zwei einander parallel ſind, aber nicht minder die vollkommen
runden, weil ſie von allen Seiten betrachtet immer die nämlichen
ſind. Das Oval und die Ellipſen drücken in der Identität noch Diffe-
renz und Mannichfaltigkeit aus. Unter den regelmäßigen Figuren iſt
aus gleichem Grunde das Dreieck noch die am wenigſten mißfällige,
weil die Winkel der Anzahl nach ungleich ſind, und die Linien keine
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jede Wiederholung von Formen, jede Parallele, Winkel von gleichen
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[523/0199] indem der, welcher ſie innehat, mit leichter Mühe z. B. ein Quadrat als Trapezium, einen Cirkel als Ellipſe erſcheinen laſſen kann. Ueber- haupt hilft ſie, von den Gegenſtänden gerade die ſchönſten Theile und die größten Maſſen zu zeigen, das Mindergefällige oder das Kleinliche zu verbergen. Dieſer freie Gebrauch muß übrigens nie ſoweit ausge- dehnt werden, daß durch die Perſpektive allein das Angenehme geſucht, und die Strenge der Nothwendigkeit, das, worin ſich die tiefſte Kunſt der Zeichnung äußern müßte, umgangen wird. Da die Zeichnung und Malerei zunächſt auf Darſtellung der For- men geht, und die Bedingung des Schönen, obgleich allerdings nicht die Vollendung des Schönen ſelbſt, die Wohlgefälligkeit iſt, ſo muß dieſe in der Zeichnung ſo weit geſucht werden, als ſie den höheren For- derungen der Wahrheit und Richtigkeit keinen Eintrag thut. Der vor- züglich, ja der faſt einzig würdige Gegenſtand der bildenden Kunſt iſt die menſchliche Geſtalt. Wie der Organismus innerlich und ſeinem Weſen nach die ſich aus ſich ſelbſt erzeugende und in ſich zurückkehrende Succeſſion iſt, ſo drückt er dieſe Form auch äußerlich aus durch die Herrſchaft der elliptiſchen, paraboliſchen und anderer Formen, welche am meiſten die Differenz in der Identität ausdrücken. In der Zeich- nung wird gefordert, daß die einförmigen, ſich immer wiederholenden Formen ſelbſt bei geringeren Gegenſtänden vermieden werden, als ob der Künſtler auch hier das Symbol der organiſchen Geſtalt vor ſich haben müßte. Sich ſelbſt beſtändig wiederholende Formen ſind die viereckigten, weil ſie aus vier Linien beſtehen, von welchen immer zwei und zwei einander parallel ſind, aber nicht minder die vollkommen runden, weil ſie von allen Seiten betrachtet immer die nämlichen ſind. Das Oval und die Ellipſen drücken in der Identität noch Diffe- renz und Mannichfaltigkeit aus. Unter den regelmäßigen Figuren iſt aus gleichem Grunde das Dreieck noch die am wenigſten mißfällige, weil die Winkel der Anzahl nach ungleich ſind, und die Linien keine Parallele bilden. Eine Forderung der Zeichnung iſt alſo, ſoviel möglich jede Wiederholung von Formen, jede Parallele, Winkel von gleichen Graden, vorzüglich aber rechte Winkel zu vermeiden, weil in dieſen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/199>, abgerufen am 02.05.2024.