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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Es ist vorzüglich wichtig, daß ich mich über die Grenzen erkläre,
innerhalb welchen die Beobachtung der Perspektive nothwendig ist,
und außerhalb deren sie eine freie Kunst oder selbst Zweck wird.

Wie überall finden wir auch hier wieder einen Gegensatz der an-
tiken und modernen Kunst, daß nämlich jene durchaus auf das Noth-
wendige, Strenge, Wesentliche ging, diese das Zufällige ausbildete
und ihm eine unabhängige Existenz gab. Es ist viel über die Frage
gestritten worden, ob die Alten die Linienperspektive gekannt haben oder
nicht. Wir würden uns ohne Zweifel ganz gleich irren, wenn wir den
Alten die Kenntniß und Beobachtung der Perspektive soweit absprechen
wollten, als sie zur Richtigkeit gehört, und wenn wir auf der an-
dern Seite annehmen wollten, daß sie die Perspektive, wie die Neueren,
zur Täuschung benutzt haben. Den Alten die Perspektive absprechen,
auch insoweit sie zur allgemeinen Richtigkeit ohne Illusion gehört,
hieße, ihnen in der Malerei die größten Unschicklichkeiten zutrauen, oder
behaupten, daß sie Ungeheuer von Gestalten gemacht haben. Z. B.
wenn wir einen Menschen mit ausgestreckten Armen von der Seite,
aber in der Nähe sehen, so daß Eine Hand vom Auge entfernter ist
als die andere, so ist es perspektivisch nothwendig, daß die entferntere
kleiner ins Auge falle. Weil wir aber einmal wissen, daß in der
Natur eine Hand so groß ist wie die andere, so finden wir auch in
der Anschauung beide gleich groß. Wollte nun der Maler diesem zu-
folge, ohne auf die perspektivische Verkürzung Rücksicht zu nehmen,
beide Hände wirklich gleich groß machen, so würde er eben dadurch
eine Unrichtigkeit begehen, denn ein geübtes Auge wird nun erst die
näher liegende Hand kleiner als die entferntere sehen. Solche Mon-
struositäten, die aus der Vernachlässigung der Perspektive im Noth-
wendigen entständen, den Alten Schuld zu geben, wäre eine vollkom-
mene Absurdität. Dagegen aber vermochten die Alten niemals die
Illusion zum Zweck zu machen, und deßwegen etwas, das bloß als
Mittel der Richtigkeit Werth hat, als eine selbständige Kunst auszu-
bilden, wie es die Neueren mit der Perspektive gemacht haben.

Die Perspektive dient dazu, alles Harte, Einförmige zu vermeiden,

Es iſt vorzüglich wichtig, daß ich mich über die Grenzen erkläre,
innerhalb welchen die Beobachtung der Perſpektive nothwendig iſt,
und außerhalb deren ſie eine freie Kunſt oder ſelbſt Zweck wird.

Wie überall finden wir auch hier wieder einen Gegenſatz der an-
tiken und modernen Kunſt, daß nämlich jene durchaus auf das Noth-
wendige, Strenge, Weſentliche ging, dieſe das Zufällige ausbildete
und ihm eine unabhängige Exiſtenz gab. Es iſt viel über die Frage
geſtritten worden, ob die Alten die Linienperſpektive gekannt haben oder
nicht. Wir würden uns ohne Zweifel ganz gleich irren, wenn wir den
Alten die Kenntniß und Beobachtung der Perſpektive ſoweit abſprechen
wollten, als ſie zur Richtigkeit gehört, und wenn wir auf der an-
dern Seite annehmen wollten, daß ſie die Perſpektive, wie die Neueren,
zur Täuſchung benutzt haben. Den Alten die Perſpektive abſprechen,
auch inſoweit ſie zur allgemeinen Richtigkeit ohne Illuſion gehört,
hieße, ihnen in der Malerei die größten Unſchicklichkeiten zutrauen, oder
behaupten, daß ſie Ungeheuer von Geſtalten gemacht haben. Z. B.
wenn wir einen Menſchen mit ausgeſtreckten Armen von der Seite,
aber in der Nähe ſehen, ſo daß Eine Hand vom Auge entfernter iſt
als die andere, ſo iſt es perſpektiviſch nothwendig, daß die entferntere
kleiner ins Auge falle. Weil wir aber einmal wiſſen, daß in der
Natur eine Hand ſo groß iſt wie die andere, ſo finden wir auch in
der Anſchauung beide gleich groß. Wollte nun der Maler dieſem zu-
folge, ohne auf die perſpektiviſche Verkürzung Rückſicht zu nehmen,
beide Hände wirklich gleich groß machen, ſo würde er eben dadurch
eine Unrichtigkeit begehen, denn ein geübtes Auge wird nun erſt die
näher liegende Hand kleiner als die entferntere ſehen. Solche Mon-
ſtruoſitäten, die aus der Vernachläſſigung der Perſpektive im Noth-
wendigen entſtänden, den Alten Schuld zu geben, wäre eine vollkom-
mene Abſurdität. Dagegen aber vermochten die Alten niemals die
Illuſion zum Zweck zu machen, und deßwegen etwas, das bloß als
Mittel der Richtigkeit Werth hat, als eine ſelbſtändige Kunſt auszu-
bilden, wie es die Neueren mit der Perſpektive gemacht haben.

Die Perſpektive dient dazu, alles Harte, Einförmige zu vermeiden,

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[522/0198] Es iſt vorzüglich wichtig, daß ich mich über die Grenzen erkläre, innerhalb welchen die Beobachtung der Perſpektive nothwendig iſt, und außerhalb deren ſie eine freie Kunſt oder ſelbſt Zweck wird. Wie überall finden wir auch hier wieder einen Gegenſatz der an- tiken und modernen Kunſt, daß nämlich jene durchaus auf das Noth- wendige, Strenge, Weſentliche ging, dieſe das Zufällige ausbildete und ihm eine unabhängige Exiſtenz gab. Es iſt viel über die Frage geſtritten worden, ob die Alten die Linienperſpektive gekannt haben oder nicht. Wir würden uns ohne Zweifel ganz gleich irren, wenn wir den Alten die Kenntniß und Beobachtung der Perſpektive ſoweit abſprechen wollten, als ſie zur Richtigkeit gehört, und wenn wir auf der an- dern Seite annehmen wollten, daß ſie die Perſpektive, wie die Neueren, zur Täuſchung benutzt haben. Den Alten die Perſpektive abſprechen, auch inſoweit ſie zur allgemeinen Richtigkeit ohne Illuſion gehört, hieße, ihnen in der Malerei die größten Unſchicklichkeiten zutrauen, oder behaupten, daß ſie Ungeheuer von Geſtalten gemacht haben. Z. B. wenn wir einen Menſchen mit ausgeſtreckten Armen von der Seite, aber in der Nähe ſehen, ſo daß Eine Hand vom Auge entfernter iſt als die andere, ſo iſt es perſpektiviſch nothwendig, daß die entferntere kleiner ins Auge falle. Weil wir aber einmal wiſſen, daß in der Natur eine Hand ſo groß iſt wie die andere, ſo finden wir auch in der Anſchauung beide gleich groß. Wollte nun der Maler dieſem zu- folge, ohne auf die perſpektiviſche Verkürzung Rückſicht zu nehmen, beide Hände wirklich gleich groß machen, ſo würde er eben dadurch eine Unrichtigkeit begehen, denn ein geübtes Auge wird nun erſt die näher liegende Hand kleiner als die entferntere ſehen. Solche Mon- ſtruoſitäten, die aus der Vernachläſſigung der Perſpektive im Noth- wendigen entſtänden, den Alten Schuld zu geben, wäre eine vollkom- mene Abſurdität. Dagegen aber vermochten die Alten niemals die Illuſion zum Zweck zu machen, und deßwegen etwas, das bloß als Mittel der Richtigkeit Werth hat, als eine ſelbſtändige Kunſt auszu- bilden, wie es die Neueren mit der Perſpektive gemacht haben. Die Perſpektive dient dazu, alles Harte, Einförmige zu vermeiden,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/198>, abgerufen am 02.05.2024.