Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Harmonie herrschend. Wie die ganze moderne Welt allgemein der Centri-
petalkraft gegen das Universum, der Sehnsucht nach dem Centrum
unterliegt, so auch die Kometen, deren Bewegungen daher eine bloße
harmonische Verwirrung ohne allen Rhythmus ausdrücken, und wie
dagegen das Leben und Wirken der Alten gleich ihrer Kunst expansiv,
centrifugal, d. h. in sich selbst absolut und rhythmisch war, so ist auch
in den Bewegungen der Planeten vergleichungsweise die Centrifugalkraft
-- die Expansion des Unendlichen im Endlichen -- herrschend.

4) Hiernach bestimmt sich nun auch die Stelle, welche die Musik
in dem allgemeinen System der Künste einnimmt. -- Wie sich der all-
gemeine Weltbau ganz unabhängig verhält von den andern Potenzen
der Natur, und je nachdem er von einer Seite betrachtet wird, das
Höchste und Allgemeinste ist, worin sich unmittelbar in die reinste Ver-
nunft auflöst, was im Concreten sich noch verwirrt, von der andern
Seite aber auch die tiefste Potenz ist: so auch die Musik, welche, von
der einen Seite betrachtet, die allgemeinste unter den realen Künsten
und der Auflösung in Rede und Vernunft am nächsten ist, obgleich von
der andern nur die erste Potenz derselben.

Die Weltkörper in der Natur sind die ersten Einheiten, die aus
der ewigen Materie hervorgehen; auch schließen sie alles in sich, obgleich
sie sich in sich selbst erst contrahiren und in mehr besondere und engere
Sphären zurückziehen müssen, um die höchsten Organisationen in sich
darzustellen, in welchen die Einheit der Natur zur vollkommenen Selbst-
anschauung gelangt. In ihren allgemeinen Bewegungen drückt sich also
der in ihnen liegende Typus der Vernunft nur für die erste Potenz aus,
und ebenso nimmt die Musik, welche von der einen Seite die verschlos-
senste aller Künste ist, die die Gestalten noch im Chaos und ununter-
scheidbar begreift, und die nur die reine Form dieser Bewegungen, ab-
gesondert vom Körperlichen, ausdrückt, den absoluten Typus nur als
Rhythmus, Harmonie und Melodie, d. h. für die erste Potenz, auf,
obgleich sie nun innerhalb dieser Sphäre die grenzenloseste aller Künste ist.

Hiermit ist die Construktion der Musik vollendet, da alle Construk-
tion der Kunst nur darauf ausgehen kann, ihre Formen als Formen

Harmonie herrſchend. Wie die ganze moderne Welt allgemein der Centri-
petalkraft gegen das Univerſum, der Sehnſucht nach dem Centrum
unterliegt, ſo auch die Kometen, deren Bewegungen daher eine bloße
harmoniſche Verwirrung ohne allen Rhythmus ausdrücken, und wie
dagegen das Leben und Wirken der Alten gleich ihrer Kunſt expanſiv,
centrifugal, d. h. in ſich ſelbſt abſolut und rhythmiſch war, ſo iſt auch
in den Bewegungen der Planeten vergleichungsweiſe die Centrifugalkraft
— die Expanſion des Unendlichen im Endlichen — herrſchend.

4) Hiernach beſtimmt ſich nun auch die Stelle, welche die Muſik
in dem allgemeinen Syſtem der Künſte einnimmt. — Wie ſich der all-
gemeine Weltbau ganz unabhängig verhält von den andern Potenzen
der Natur, und je nachdem er von einer Seite betrachtet wird, das
Höchſte und Allgemeinſte iſt, worin ſich unmittelbar in die reinſte Ver-
nunft auflöst, was im Concreten ſich noch verwirrt, von der andern
Seite aber auch die tiefſte Potenz iſt: ſo auch die Muſik, welche, von
der einen Seite betrachtet, die allgemeinſte unter den realen Künſten
und der Auflöſung in Rede und Vernunft am nächſten iſt, obgleich von
der andern nur die erſte Potenz derſelben.

Die Weltkörper in der Natur ſind die erſten Einheiten, die aus
der ewigen Materie hervorgehen; auch ſchließen ſie alles in ſich, obgleich
ſie ſich in ſich ſelbſt erſt contrahiren und in mehr beſondere und engere
Sphären zurückziehen müſſen, um die höchſten Organiſationen in ſich
darzuſtellen, in welchen die Einheit der Natur zur vollkommenen Selbſt-
anſchauung gelangt. In ihren allgemeinen Bewegungen drückt ſich alſo
der in ihnen liegende Typus der Vernunft nur für die erſte Potenz aus,
und ebenſo nimmt die Muſik, welche von der einen Seite die verſchloſ-
ſenſte aller Künſte iſt, die die Geſtalten noch im Chaos und ununter-
ſcheidbar begreift, und die nur die reine Form dieſer Bewegungen, ab-
geſondert vom Körperlichen, ausdrückt, den abſoluten Typus nur als
Rhythmus, Harmonie und Melodie, d. h. für die erſte Potenz, auf,
obgleich ſie nun innerhalb dieſer Sphäre die grenzenloſeſte aller Künſte iſt.

Hiermit iſt die Conſtruktion der Muſik vollendet, da alle Conſtruk-
tion der Kunſt nur darauf ausgehen kann, ihre Formen als Formen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0180" n="504"/>
Harmonie herr&#x017F;chend. Wie die ganze moderne Welt allgemein der Centri-<lb/>
petalkraft gegen das Univer&#x017F;um, der Sehn&#x017F;ucht nach dem Centrum<lb/>
unterliegt, &#x017F;o auch die Kometen, deren Bewegungen daher eine bloße<lb/>
harmoni&#x017F;che Verwirrung ohne allen Rhythmus ausdrücken, und wie<lb/>
dagegen das Leben und Wirken der Alten gleich ihrer Kun&#x017F;t expan&#x017F;iv,<lb/>
centrifugal, d. h. in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ab&#x017F;olut und rhythmi&#x017F;ch war, &#x017F;o i&#x017F;t auch<lb/>
in den Bewegungen der Planeten vergleichungswei&#x017F;e die Centrifugalkraft<lb/>
&#x2014; die Expan&#x017F;ion des Unendlichen im Endlichen &#x2014; herr&#x017F;chend.</p><lb/>
            <p>4) Hiernach be&#x017F;timmt &#x017F;ich nun auch die Stelle, welche die Mu&#x017F;ik<lb/>
in dem allgemeinen Sy&#x017F;tem der Kün&#x017F;te einnimmt. &#x2014; Wie &#x017F;ich der all-<lb/>
gemeine Weltbau ganz unabhängig verhält von den andern Potenzen<lb/>
der Natur, und je nachdem er von einer Seite betrachtet wird, das<lb/>
Höch&#x017F;te und Allgemein&#x017F;te i&#x017F;t, worin &#x017F;ich unmittelbar in die rein&#x017F;te Ver-<lb/>
nunft auflöst, was im Concreten &#x017F;ich noch verwirrt, von der andern<lb/>
Seite aber auch die tief&#x017F;te Potenz i&#x017F;t: &#x017F;o auch die Mu&#x017F;ik, welche, von<lb/>
der einen Seite betrachtet, die allgemein&#x017F;te unter den realen Kün&#x017F;ten<lb/>
und der Auflö&#x017F;ung in Rede und Vernunft am näch&#x017F;ten i&#x017F;t, obgleich von<lb/>
der andern nur die er&#x017F;te Potenz der&#x017F;elben.</p><lb/>
            <p>Die Weltkörper in der Natur &#x017F;ind die er&#x017F;ten Einheiten, die aus<lb/>
der ewigen Materie hervorgehen; auch &#x017F;chließen &#x017F;ie alles in &#x017F;ich, obgleich<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t er&#x017F;t contrahiren und in mehr be&#x017F;ondere und engere<lb/>
Sphären zurückziehen mü&#x017F;&#x017F;en, um die höch&#x017F;ten Organi&#x017F;ationen in &#x017F;ich<lb/>
darzu&#x017F;tellen, in welchen die Einheit der Natur zur vollkommenen Selb&#x017F;t-<lb/>
an&#x017F;chauung gelangt. In ihren allgemeinen Bewegungen drückt &#x017F;ich al&#x017F;o<lb/>
der in ihnen liegende Typus der Vernunft nur für die er&#x017F;te Potenz aus,<lb/>
und eben&#x017F;o nimmt die Mu&#x017F;ik, welche von der einen Seite die ver&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;te aller Kün&#x017F;te i&#x017F;t, die die Ge&#x017F;talten noch im Chaos und ununter-<lb/>
&#x017F;cheidbar begreift, und die nur die reine Form die&#x017F;er Bewegungen, ab-<lb/>
ge&#x017F;ondert vom Körperlichen, ausdrückt, den ab&#x017F;oluten Typus nur als<lb/>
Rhythmus, Harmonie und Melodie, d. h. für die er&#x017F;te Potenz, auf,<lb/>
obgleich &#x017F;ie nun innerhalb die&#x017F;er Sphäre die grenzenlo&#x017F;e&#x017F;te aller Kün&#x017F;te i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Hiermit i&#x017F;t die Con&#x017F;truktion der Mu&#x017F;ik vollendet, da alle Con&#x017F;truk-<lb/>
tion der Kun&#x017F;t nur darauf ausgehen kann, ihre Formen als Formen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[504/0180] Harmonie herrſchend. Wie die ganze moderne Welt allgemein der Centri- petalkraft gegen das Univerſum, der Sehnſucht nach dem Centrum unterliegt, ſo auch die Kometen, deren Bewegungen daher eine bloße harmoniſche Verwirrung ohne allen Rhythmus ausdrücken, und wie dagegen das Leben und Wirken der Alten gleich ihrer Kunſt expanſiv, centrifugal, d. h. in ſich ſelbſt abſolut und rhythmiſch war, ſo iſt auch in den Bewegungen der Planeten vergleichungsweiſe die Centrifugalkraft — die Expanſion des Unendlichen im Endlichen — herrſchend. 4) Hiernach beſtimmt ſich nun auch die Stelle, welche die Muſik in dem allgemeinen Syſtem der Künſte einnimmt. — Wie ſich der all- gemeine Weltbau ganz unabhängig verhält von den andern Potenzen der Natur, und je nachdem er von einer Seite betrachtet wird, das Höchſte und Allgemeinſte iſt, worin ſich unmittelbar in die reinſte Ver- nunft auflöst, was im Concreten ſich noch verwirrt, von der andern Seite aber auch die tiefſte Potenz iſt: ſo auch die Muſik, welche, von der einen Seite betrachtet, die allgemeinſte unter den realen Künſten und der Auflöſung in Rede und Vernunft am nächſten iſt, obgleich von der andern nur die erſte Potenz derſelben. Die Weltkörper in der Natur ſind die erſten Einheiten, die aus der ewigen Materie hervorgehen; auch ſchließen ſie alles in ſich, obgleich ſie ſich in ſich ſelbſt erſt contrahiren und in mehr beſondere und engere Sphären zurückziehen müſſen, um die höchſten Organiſationen in ſich darzuſtellen, in welchen die Einheit der Natur zur vollkommenen Selbſt- anſchauung gelangt. In ihren allgemeinen Bewegungen drückt ſich alſo der in ihnen liegende Typus der Vernunft nur für die erſte Potenz aus, und ebenſo nimmt die Muſik, welche von der einen Seite die verſchloſ- ſenſte aller Künſte iſt, die die Geſtalten noch im Chaos und ununter- ſcheidbar begreift, und die nur die reine Form dieſer Bewegungen, ab- geſondert vom Körperlichen, ausdrückt, den abſoluten Typus nur als Rhythmus, Harmonie und Melodie, d. h. für die erſte Potenz, auf, obgleich ſie nun innerhalb dieſer Sphäre die grenzenloſeſte aller Künſte iſt. Hiermit iſt die Conſtruktion der Muſik vollendet, da alle Conſtruk- tion der Kunſt nur darauf ausgehen kann, ihre Formen als Formen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/180
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/180>, abgerufen am 24.11.2024.