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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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verstehen, nämlich daß allerdings die Menschen in einer Mühle leben, daß
sie aber vor diesem Sinnengeräusch die Accorde jener himmlischen Musik
nicht vernehmen können, wie sich denn dieß auch wirklich an solchem
Verstehen gezeigt hat. Sokrates bei Platon sagt: Derjenige ist der
Musiker, der von den sinnlich vernommenen Harmonien fortschreitend
zu den unsinnlichen, intelligibeln und ihren Proportionen. -- Noch
ein größeres Problem bleibt der Philosophie zu lösen übrig, das Gesetz
der Anzahl und der Distanzen der Planeten. Erst mit diesem wird
auch daran gedacht werden können, Einsicht in das innere System der
Töne zu erhalten, welches bis jetzt noch ein gänzlich verschlossener Ge-
genstand ist. Wie wenig unser jetziges Tonsystem auf Einsicht und
Wissenschaft gegründet sey, erhellt daraus, daß manche Intervalle und
Fortschreitungsarten in der alten Musik üblich waren, die nach unserer
Eintheilung unausführbar oder gar uns unverständlich sind.

3) Wir können jetzt erst die höchste Bedeutung von Rhythmus,
Harmonie und Melodie festsetzen. Sie sind die ersten und reinsten
Formen der Bewegung im Universum und, real angeschaut, die Art
der materiellen Dinge den Ideen gleich zu seyn. Auf den Flügeln
der Harmonie und des Rhythmus schweben die Weltkörper; was man
Centripetal- und Centrifugalkraft genannt hat, ist nichts anderes als
-- dieses Rhythmus, jenes Harmonie. Von denselben Flügeln erhoben
schwebt die Musik im Raum, um aus dem durchsichtigen Leib des Lauts
und Tons ein hörbares Universum zu weben.

Auch im Sonnensystem drückt sich das ganze System der Musik
aus. Kepler schon schreibt die Durart den Apheliis, die Mollart den
Periheliis zu. Die unterscheidenden Eigenschaften, welche in der Musik
dem Baß, dem Tenor, dem Alt und Diskant zugeschrieben werden,
theilt er verschiedenen Planeten zu.

Aber noch mehr ist der Gegensatz der Melodie und Harmonie,
wie er in der Kunst nacheinander erschien, in dem Sonnensystem aus-
gedrückt.

In der Planetenwelt ist der Rhythmus das Herrschende, ihre
Bewegungen sind reine Melodie; in der Kometenwelt ist die

verſtehen, nämlich daß allerdings die Menſchen in einer Mühle leben, daß
ſie aber vor dieſem Sinnengeräuſch die Accorde jener himmliſchen Muſik
nicht vernehmen können, wie ſich denn dieß auch wirklich an ſolchem
Verſtehen gezeigt hat. Sokrates bei Platon ſagt: Derjenige iſt der
Muſiker, der von den ſinnlich vernommenen Harmonien fortſchreitend
zu den unſinnlichen, intelligibeln und ihren Proportionen. — Noch
ein größeres Problem bleibt der Philoſophie zu löſen übrig, das Geſetz
der Anzahl und der Diſtanzen der Planeten. Erſt mit dieſem wird
auch daran gedacht werden können, Einſicht in das innere Syſtem der
Töne zu erhalten, welches bis jetzt noch ein gänzlich verſchloſſener Ge-
genſtand iſt. Wie wenig unſer jetziges Tonſyſtem auf Einſicht und
Wiſſenſchaft gegründet ſey, erhellt daraus, daß manche Intervalle und
Fortſchreitungsarten in der alten Muſik üblich waren, die nach unſerer
Eintheilung unausführbar oder gar uns unverſtändlich ſind.

3) Wir können jetzt erſt die höchſte Bedeutung von Rhythmus,
Harmonie und Melodie feſtſetzen. Sie ſind die erſten und reinſten
Formen der Bewegung im Univerſum und, real angeſchaut, die Art
der materiellen Dinge den Ideen gleich zu ſeyn. Auf den Flügeln
der Harmonie und des Rhythmus ſchweben die Weltkörper; was man
Centripetal- und Centrifugalkraft genannt hat, iſt nichts anderes als
— dieſes Rhythmus, jenes Harmonie. Von denſelben Flügeln erhoben
ſchwebt die Muſik im Raum, um aus dem durchſichtigen Leib des Lauts
und Tons ein hörbares Univerſum zu weben.

Auch im Sonnenſyſtem drückt ſich das ganze Syſtem der Muſik
aus. Kepler ſchon ſchreibt die Durart den Apheliis, die Mollart den
Periheliis zu. Die unterſcheidenden Eigenſchaften, welche in der Muſik
dem Baß, dem Tenor, dem Alt und Diskant zugeſchrieben werden,
theilt er verſchiedenen Planeten zu.

Aber noch mehr iſt der Gegenſatz der Melodie und Harmonie,
wie er in der Kunſt nacheinander erſchien, in dem Sonnenſyſtem aus-
gedrückt.

In der Planetenwelt iſt der Rhythmus das Herrſchende, ihre
Bewegungen ſind reine Melodie; in der Kometenwelt iſt die

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[503/0179] verſtehen, nämlich daß allerdings die Menſchen in einer Mühle leben, daß ſie aber vor dieſem Sinnengeräuſch die Accorde jener himmliſchen Muſik nicht vernehmen können, wie ſich denn dieß auch wirklich an ſolchem Verſtehen gezeigt hat. Sokrates bei Platon ſagt: Derjenige iſt der Muſiker, der von den ſinnlich vernommenen Harmonien fortſchreitend zu den unſinnlichen, intelligibeln und ihren Proportionen. — Noch ein größeres Problem bleibt der Philoſophie zu löſen übrig, das Geſetz der Anzahl und der Diſtanzen der Planeten. Erſt mit dieſem wird auch daran gedacht werden können, Einſicht in das innere Syſtem der Töne zu erhalten, welches bis jetzt noch ein gänzlich verſchloſſener Ge- genſtand iſt. Wie wenig unſer jetziges Tonſyſtem auf Einſicht und Wiſſenſchaft gegründet ſey, erhellt daraus, daß manche Intervalle und Fortſchreitungsarten in der alten Muſik üblich waren, die nach unſerer Eintheilung unausführbar oder gar uns unverſtändlich ſind. 3) Wir können jetzt erſt die höchſte Bedeutung von Rhythmus, Harmonie und Melodie feſtſetzen. Sie ſind die erſten und reinſten Formen der Bewegung im Univerſum und, real angeſchaut, die Art der materiellen Dinge den Ideen gleich zu ſeyn. Auf den Flügeln der Harmonie und des Rhythmus ſchweben die Weltkörper; was man Centripetal- und Centrifugalkraft genannt hat, iſt nichts anderes als — dieſes Rhythmus, jenes Harmonie. Von denſelben Flügeln erhoben ſchwebt die Muſik im Raum, um aus dem durchſichtigen Leib des Lauts und Tons ein hörbares Univerſum zu weben. Auch im Sonnenſyſtem drückt ſich das ganze Syſtem der Muſik aus. Kepler ſchon ſchreibt die Durart den Apheliis, die Mollart den Periheliis zu. Die unterſcheidenden Eigenſchaften, welche in der Muſik dem Baß, dem Tenor, dem Alt und Diskant zugeſchrieben werden, theilt er verſchiedenen Planeten zu. Aber noch mehr iſt der Gegenſatz der Melodie und Harmonie, wie er in der Kunſt nacheinander erſchien, in dem Sonnenſyſtem aus- gedrückt. In der Planetenwelt iſt der Rhythmus das Herrſchende, ihre Bewegungen ſind reine Melodie; in der Kometenwelt iſt die

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/179>, abgerufen am 25.11.2024.