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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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oder der Einheit erscheint. Jene bleibt gleichsam der Naturbestimmung
der Musik getreuer, welche die ist, eine Kunst in der Succession zu
seyn, sie ist daher realistisch; diese möchte in der tieferen Sphäre gern
die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succession gleichsam ideal
aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darstellen. Die
rhythmische Musik, welche das Unendliche im Endlichen darstellt, wird
mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüstigen Affekts, die harmo-
nische mehr des Strebens und der Sehnsucht seyn. Daher es noth-
wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanschauung auf der
Sehnsucht und dem Zurückstreben der Differenz in die Einheit beruht,
das gemeinschaftliche, von jedem Subjekt insbesondere ausgehende Stre-
ben, im Absoluten sich als Eins mit allen anzusehen, durch die harmo-
nische, rhythmuslose Musik sich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein,
wie in den griechischen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung,
sich völlig zum Besonderen gebildet hatte und es selbst war, gleichwie
er in seiner Erscheinung als Staat rhythmisch war, so auch in der
Kunst rhythmisch seyn mußte.

Wer, ohne anschauliche Kenntniß von der Musik insbesondere zu
haben, sich dennoch eine Anschauung des Verhältnisses von Rhythmus
und rhythmischer Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in
Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakespeare.
Ein Sophokles'sches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig-
keit ist dargestellt, es hat keine überflüssige Breite; Shakespeare dagegen
ist der größte Harmonist, Meister im dramatischen Contrapunkt; es
ist nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es ist zu-
gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verschiedenen Seiten kom-
mender Reflex, was uns dadurch vorgestellt wird. Man vergleiche
z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie
der Begebenheit, anstatt daß hier dem Schicksal des von seinen Töch-
tern verstoßenen Lear die Geschichte eines Sohns, der von seinem
Vater verstoßen, und so jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder
ein anderes Moment entgegengesetzt ist, von dem es begleitet und reflek-
tirt wird.

oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung
der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu
ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern
die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal
aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die
rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird
mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo-
niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth-
wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der
Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht,
das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre-
ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo-
niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein,
wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung,
ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie
er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der
Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte.

Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu
haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus
und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in
Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare.
Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig-
keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen
iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es
iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu-
gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom-
mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche
z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie
der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch-
tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem
Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder
ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek-
tirt wird.

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[500/0176] oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo- niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth- wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht, das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre- ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo- niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein, wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung, ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte. Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare. Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig- keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu- gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom- mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch- tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek- tirt wird.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/176>, abgerufen am 24.11.2024.