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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der
drei Einheiten der Musik unter die erste ist, steht die
Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter
die andere entgegen
. -- Die Harmonie als ein Gegensatz der
Melodie ist allgemein auch bei den bloß empirischen Theoretikern aner-
kannt. Melodie ist in der Musik die absolute Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche, also die ganze Einheit. Harmonie ist gleichfalls
Musik, insofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz,
aber diese Einheit wird hier durch die entgegengesetzte -- die ideale
Einheit -- symbolisirt. Im gemeinen Sprachgebrauch sagt man von
einem Tonkünstler, daß er die Melodie verstehe, wenn er einen ein-
stimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Gesang
setzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im
Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit
(Ausdehnung nach der zweiten Dimension) zu geben weiß, also wenn
er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein
wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort ist offenbar Ein-
heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succession, hier
Coexistenz.

Harmonie ist auch in der Melodie, aber nur in der Unter-
ordnung unter Rhythmus (das Plastische). Hier ist von Harmo-
nie die Rede, inwiefern sie die Unterordnung unter Rhythmus aus-
schließt, inwiefern sie selbst das Ganze ist, untergeordnet der zweiten
Dimension.

Harmonie kommt zwar in verschiedenen Bedeutungen bei den Theo-
retikern vor, so daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange-
schlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird also Har-
monie in der höchsten Einfachheit aufgefaßt, in welcher sie z. B. auch
eine Eigenschaft des einzelnen Klangs ist, da in diesem zugleich mehrere
und von ihm verschiedene Töne mitklingen, die aber so genau vereinigt
sind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Diese selbige Vielheit in
der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen
Tonstücks, so besteht Harmonie darin, daß in jedem dieser Momente

§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der
drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die
Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter
die andere entgegen
. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der
Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner-
kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls
Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz,
aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale
Einheit — ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von
einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein-
ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang
ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im
Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit
(Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn
er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein
wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein-
heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier
Coexiſtenz.

Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter-
ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo-
nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus-
ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das Ganze iſt, untergeordnet der zweiten
Dimenſion.

Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo-
retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange-
ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har-
monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch
eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere
und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt
ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in
der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen
Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente

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[498/0174] §. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter die andere entgegen. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner- kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend- lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz, aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale Einheit — ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein- ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit (Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein- heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier Coexiſtenz. Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter- ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo- nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus- ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das Ganze iſt, untergeordnet der zweiten Dimenſion. Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo- retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange- ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har- monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/174>, abgerufen am 02.05.2024.