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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Durch die Anschauung des Chaos, möchte ich sagen, geht der Ver-
stand zu aller Erkenntniß des Absoluten, es sey in der Kunst oder in
der Wissenschaft, über. Das gemeine Wissen, wenn es, nach vergeb-
lichem Bestreben das Chaos von Erscheinungen in der Natur und der
Geschichte mit dem Verstand auszuschöpfen, zu dem Entschluß übergeht,
"das Unbegreifliche selbst, wie Schiller sagt 1, zum Standpunkt
der Beurtheilung", d. h. zum Princip zu machen, scheint hier mit
dem ersten Schritt zur Philosophie oder wenigstens zur ästhetischen
Anschauung der Welt. Erst in dieser Ungebundenheit, die dem gemeinen
Verstand als Gesetzlosigkeit erscheint, erst in dieser Selbständigkeit und
Freiheit von Bedingungen, in welcher sich selbst jede Naturerscheinung
für ihn hält, da er niemals eine vollkommen aus der andern begreifen
kann und nothgedrungen jeder ihre Absolutheit zugestehen muß -- erst
in dieser Unabhängigkeit jeder einzelnen Erscheinung, die dem nur auf
Bedingungen gebenden Verstand ein Ende macht, kann er die Welt als
das wahre Sinnbild der Vernunft, in der alles unbedingt, und des
Absoluten, in dem alles frei und ungezwungen ist, erkennen.

Von dieser Seite stellt sich nun auch die Erhabenheit der Gesin-
nung
dar, vorzüglich inwiefern derjenige, in welchem sie sich zeigt,
zugleich als Symbol der ganzen Geschichte dienen kann. Die selbige
Welt, welche noch als Natur sich in Schranken von Gesetzen hält, die
nur weit genug gezogen sind, um innerhalb derselben noch einen Schein
der Gesetzlosigkeit zu behalten, scheint als Geschichte alle Gesetzmäßigkeit
abgelegt zu haben. Das Reale rächt sich hier, und kehrt mit seiner
ganzen strengen Nothwendigkeit zurück, um hier vielmehr alle Gesetze,
welche das Freie sich selbst gibt, zu zerstören und sich ihm gegenüber frei
zu zeigen. Die Gesetze und Absichten der Menschen sind hier kein Gesetz
für die Natur, sie "tritt, um mich wieder einer Stelle von Schiller 2 zu
bedienen, die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher
Achtlosigkeit in den Staub, und reißt das Wichtige wie das Geringe,
das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fort. Die

1 a. a. O. S. 296. D. H.
2 ebendaselbst. D. H.

Durch die Anſchauung des Chaos, möchte ich ſagen, geht der Ver-
ſtand zu aller Erkenntniß des Abſoluten, es ſey in der Kunſt oder in
der Wiſſenſchaft, über. Das gemeine Wiſſen, wenn es, nach vergeb-
lichem Beſtreben das Chaos von Erſcheinungen in der Natur und der
Geſchichte mit dem Verſtand auszuſchöpfen, zu dem Entſchluß übergeht,
„das Unbegreifliche ſelbſt, wie Schiller ſagt 1, zum Standpunkt
der Beurtheilung“, d. h. zum Princip zu machen, ſcheint hier mit
dem erſten Schritt zur Philoſophie oder wenigſtens zur äſthetiſchen
Anſchauung der Welt. Erſt in dieſer Ungebundenheit, die dem gemeinen
Verſtand als Geſetzloſigkeit erſcheint, erſt in dieſer Selbſtändigkeit und
Freiheit von Bedingungen, in welcher ſich ſelbſt jede Naturerſcheinung
für ihn hält, da er niemals eine vollkommen aus der andern begreifen
kann und nothgedrungen jeder ihre Abſolutheit zugeſtehen muß — erſt
in dieſer Unabhängigkeit jeder einzelnen Erſcheinung, die dem nur auf
Bedingungen gebenden Verſtand ein Ende macht, kann er die Welt als
das wahre Sinnbild der Vernunft, in der alles unbedingt, und des
Abſoluten, in dem alles frei und ungezwungen iſt, erkennen.

Von dieſer Seite ſtellt ſich nun auch die Erhabenheit der Geſin-
nung
dar, vorzüglich inwiefern derjenige, in welchem ſie ſich zeigt,
zugleich als Symbol der ganzen Geſchichte dienen kann. Die ſelbige
Welt, welche noch als Natur ſich in Schranken von Geſetzen hält, die
nur weit genug gezogen ſind, um innerhalb derſelben noch einen Schein
der Geſetzloſigkeit zu behalten, ſcheint als Geſchichte alle Geſetzmäßigkeit
abgelegt zu haben. Das Reale rächt ſich hier, und kehrt mit ſeiner
ganzen ſtrengen Nothwendigkeit zurück, um hier vielmehr alle Geſetze,
welche das Freie ſich ſelbſt gibt, zu zerſtören und ſich ihm gegenüber frei
zu zeigen. Die Geſetze und Abſichten der Menſchen ſind hier kein Geſetz
für die Natur, ſie „tritt, um mich wieder einer Stelle von Schiller 2 zu
bedienen, die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher
Achtloſigkeit in den Staub, und reißt das Wichtige wie das Geringe,
das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit ſich fort. Die

1 a. a. O. S. 296. D. H.
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[466/0142] Durch die Anſchauung des Chaos, möchte ich ſagen, geht der Ver- ſtand zu aller Erkenntniß des Abſoluten, es ſey in der Kunſt oder in der Wiſſenſchaft, über. Das gemeine Wiſſen, wenn es, nach vergeb- lichem Beſtreben das Chaos von Erſcheinungen in der Natur und der Geſchichte mit dem Verſtand auszuſchöpfen, zu dem Entſchluß übergeht, „das Unbegreifliche ſelbſt, wie Schiller ſagt 1, zum Standpunkt der Beurtheilung“, d. h. zum Princip zu machen, ſcheint hier mit dem erſten Schritt zur Philoſophie oder wenigſtens zur äſthetiſchen Anſchauung der Welt. Erſt in dieſer Ungebundenheit, die dem gemeinen Verſtand als Geſetzloſigkeit erſcheint, erſt in dieſer Selbſtändigkeit und Freiheit von Bedingungen, in welcher ſich ſelbſt jede Naturerſcheinung für ihn hält, da er niemals eine vollkommen aus der andern begreifen kann und nothgedrungen jeder ihre Abſolutheit zugeſtehen muß — erſt in dieſer Unabhängigkeit jeder einzelnen Erſcheinung, die dem nur auf Bedingungen gebenden Verſtand ein Ende macht, kann er die Welt als das wahre Sinnbild der Vernunft, in der alles unbedingt, und des Abſoluten, in dem alles frei und ungezwungen iſt, erkennen. Von dieſer Seite ſtellt ſich nun auch die Erhabenheit der Geſin- nung dar, vorzüglich inwiefern derjenige, in welchem ſie ſich zeigt, zugleich als Symbol der ganzen Geſchichte dienen kann. Die ſelbige Welt, welche noch als Natur ſich in Schranken von Geſetzen hält, die nur weit genug gezogen ſind, um innerhalb derſelben noch einen Schein der Geſetzloſigkeit zu behalten, ſcheint als Geſchichte alle Geſetzmäßigkeit abgelegt zu haben. Das Reale rächt ſich hier, und kehrt mit ſeiner ganzen ſtrengen Nothwendigkeit zurück, um hier vielmehr alle Geſetze, welche das Freie ſich ſelbſt gibt, zu zerſtören und ſich ihm gegenüber frei zu zeigen. Die Geſetze und Abſichten der Menſchen ſind hier kein Geſetz für die Natur, ſie „tritt, um mich wieder einer Stelle von Schiller 2 zu bedienen, die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtloſigkeit in den Staub, und reißt das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit ſich fort. Die 1 a. a. O. S. 296. D. H. 2 ebendaſelbſt. D. H.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/142>, abgerufen am 01.05.2024.