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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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philosophie ist gleichfalls Anschauung des Unendlichen im Endlichen,
aber auf eine allgemeingültige und wissenschaftlich objektive Art. Alle
speculative Philosophie hat nothwendig dieselbe der Richtung des Christen-
thums entgegengesetzte Richtung, sofern man nämlich das Christenthum
in dieser seiner empirisch-historischen Gestalt nimmt, in welcher es sich
als Gegensatz darstellt, und nicht in dieser Entgegensetzung es selbst
als Uebergang betrachtet. Das Christenthum ist aber schon jetzt
durch den Lauf der Zeit und durch die Wirkungen des Weltgeistes,
der sein entferntes Vorhaben nur erst ahnden, aber doch auch nicht
verkennen läßt, bloß als Uebergang und bloß als Element und gleich-
sam die eine Seite der neuen Welt dargestellt, in der sich die Succes-
sionen der modernen Zeit endlich als Totalität darstellen werden. Wer
den allgemeinen Typus kennt, nach dem alles geordnet ist und geschieht,
wird nicht zweifeln, daß dieser integrante Theil der modernen Bildung
die andere Einheit ist, welche das Christenthum als Gegensatz von sich
ausschloß, und daß diese Einheit, welche ein Schauen des Unendlichen
im Endlichen ist, in das Ganze derselben aufgenommen werden müsse.
Folgendes, obgleich freilich untergeordnet ihrer besonderen Einheit, wird
dienen, meine Meinung deutlich zu machen.

Die realistische Mythologie der Griechen schloß die historische Be-
ziehung nicht aus, vielmehr wurde sie erst in der historischen Beziehung
-- als Epos -- wahrhaft zur Mythologie. Ihre Götter waren dem
Ursprung nach Naturwesen; diese Naturgötter mußten von ihrem
Ursprung sich losreißen und historische Wesen werden, um wahrhaft
unabhängige, poetische zu werden. Hier erst werden sie Götter, vorher
sind sie Götzen. Das Herrschende der griechischen Mythologie blieb
deßwegen doch immer das realistische oder endliche Princip. Das Ent-
gegengesetzte wird in der modernen Bildung der Fall seyn. Sie schaut
das Universum nur an als Geschichte, als moralisches Reich; inso-
fern stellt sie sich als Gegensatz dar. Der Polytheismus, der in ihr
möglich ist, ist nur durch Begrenzungen in der Zeit, durch historische
Begrenzungen möglich, ihre Götter sind Geschichtsgötter. Diese
werden nicht wahrhaft Götter, lebendig, unabhängig, poetisch werden

philoſophie iſt gleichfalls Anſchauung des Unendlichen im Endlichen,
aber auf eine allgemeingültige und wiſſenſchaftlich objektive Art. Alle
ſpeculative Philoſophie hat nothwendig dieſelbe der Richtung des Chriſten-
thums entgegengeſetzte Richtung, ſofern man nämlich das Chriſtenthum
in dieſer ſeiner empiriſch-hiſtoriſchen Geſtalt nimmt, in welcher es ſich
als Gegenſatz darſtellt, und nicht in dieſer Entgegenſetzung es ſelbſt
als Uebergang betrachtet. Das Chriſtenthum iſt aber ſchon jetzt
durch den Lauf der Zeit und durch die Wirkungen des Weltgeiſtes,
der ſein entferntes Vorhaben nur erſt ahnden, aber doch auch nicht
verkennen läßt, bloß als Uebergang und bloß als Element und gleich-
ſam die eine Seite der neuen Welt dargeſtellt, in der ſich die Succeſ-
ſionen der modernen Zeit endlich als Totalität darſtellen werden. Wer
den allgemeinen Typus kennt, nach dem alles geordnet iſt und geſchieht,
wird nicht zweifeln, daß dieſer integrante Theil der modernen Bildung
die andere Einheit iſt, welche das Chriſtenthum als Gegenſatz von ſich
ausſchloß, und daß dieſe Einheit, welche ein Schauen des Unendlichen
im Endlichen iſt, in das Ganze derſelben aufgenommen werden müſſe.
Folgendes, obgleich freilich untergeordnet ihrer beſonderen Einheit, wird
dienen, meine Meinung deutlich zu machen.

Die realiſtiſche Mythologie der Griechen ſchloß die hiſtoriſche Be-
ziehung nicht aus, vielmehr wurde ſie erſt in der hiſtoriſchen Beziehung
— als Epos — wahrhaft zur Mythologie. Ihre Götter waren dem
Urſprung nach Naturweſen; dieſe Naturgötter mußten von ihrem
Urſprung ſich losreißen und hiſtoriſche Weſen werden, um wahrhaft
unabhängige, poetiſche zu werden. Hier erſt werden ſie Götter, vorher
ſind ſie Götzen. Das Herrſchende der griechiſchen Mythologie blieb
deßwegen doch immer das realiſtiſche oder endliche Princip. Das Ent-
gegengeſetzte wird in der modernen Bildung der Fall ſeyn. Sie ſchaut
das Univerſum nur an als Geſchichte, als moraliſches Reich; inſo-
fern ſtellt ſie ſich als Gegenſatz dar. Der Polytheismus, der in ihr
möglich iſt, iſt nur durch Begrenzungen in der Zeit, durch hiſtoriſche
Begrenzungen möglich, ihre Götter ſind Geſchichtsgötter. Dieſe
werden nicht wahrhaft Götter, lebendig, unabhängig, poetiſch werden

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[448/0124] philoſophie iſt gleichfalls Anſchauung des Unendlichen im Endlichen, aber auf eine allgemeingültige und wiſſenſchaftlich objektive Art. Alle ſpeculative Philoſophie hat nothwendig dieſelbe der Richtung des Chriſten- thums entgegengeſetzte Richtung, ſofern man nämlich das Chriſtenthum in dieſer ſeiner empiriſch-hiſtoriſchen Geſtalt nimmt, in welcher es ſich als Gegenſatz darſtellt, und nicht in dieſer Entgegenſetzung es ſelbſt als Uebergang betrachtet. Das Chriſtenthum iſt aber ſchon jetzt durch den Lauf der Zeit und durch die Wirkungen des Weltgeiſtes, der ſein entferntes Vorhaben nur erſt ahnden, aber doch auch nicht verkennen läßt, bloß als Uebergang und bloß als Element und gleich- ſam die eine Seite der neuen Welt dargeſtellt, in der ſich die Succeſ- ſionen der modernen Zeit endlich als Totalität darſtellen werden. Wer den allgemeinen Typus kennt, nach dem alles geordnet iſt und geſchieht, wird nicht zweifeln, daß dieſer integrante Theil der modernen Bildung die andere Einheit iſt, welche das Chriſtenthum als Gegenſatz von ſich ausſchloß, und daß dieſe Einheit, welche ein Schauen des Unendlichen im Endlichen iſt, in das Ganze derſelben aufgenommen werden müſſe. Folgendes, obgleich freilich untergeordnet ihrer beſonderen Einheit, wird dienen, meine Meinung deutlich zu machen. Die realiſtiſche Mythologie der Griechen ſchloß die hiſtoriſche Be- ziehung nicht aus, vielmehr wurde ſie erſt in der hiſtoriſchen Beziehung — als Epos — wahrhaft zur Mythologie. Ihre Götter waren dem Urſprung nach Naturweſen; dieſe Naturgötter mußten von ihrem Urſprung ſich losreißen und hiſtoriſche Weſen werden, um wahrhaft unabhängige, poetiſche zu werden. Hier erſt werden ſie Götter, vorher ſind ſie Götzen. Das Herrſchende der griechiſchen Mythologie blieb deßwegen doch immer das realiſtiſche oder endliche Princip. Das Ent- gegengeſetzte wird in der modernen Bildung der Fall ſeyn. Sie ſchaut das Univerſum nur an als Geſchichte, als moraliſches Reich; inſo- fern ſtellt ſie ſich als Gegenſatz dar. Der Polytheismus, der in ihr möglich iſt, iſt nur durch Begrenzungen in der Zeit, durch hiſtoriſche Begrenzungen möglich, ihre Götter ſind Geſchichtsgötter. Dieſe werden nicht wahrhaft Götter, lebendig, unabhängig, poetiſch werden

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/124>, abgerufen am 30.04.2024.