Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

über die Grenze der Anständigkeit getriebnes
Entblößen des Halses hinten und vorn,
das ich gleichwohl auch sonst Takt für De-
corum
habende Damen sich erlauben sah,
die Schonung des andern Geschlechts abge-
nommen habe. Daß die Ehemänner über
solche Zurschautragung und Aublicksgestat-
tungen nicht eifersüchtig werden, ist kein
gutes Zeichen. Wenn die Vorzeit diese Reiz-
parthien vielleicht zu sehr verhüllte, berech-
tigt das, sie jetzt sperrweit zu öffnen?

Früh sollten die Eltern darauf bedacht
seyn, die Kinder verschämt zu machen; denn
da es bey unsern Sitten unmöglich gewor-
den, alle Theile des Körpers so gleichgültig
anzusehen wie Hände oder Nasen, so ist es
um so nothwendiger, die Kinder zu einem ge-
wissen Unterschiedmachen unter den Gliedern
zu gewöhnen, doch muß solches mit großer
Vorsichtigkeit geschehen, damit letztre sie nicht
zu einer nachtheiligen Neugierde verleite.
Es wäre gewiß nützlich, ihnen gehörigen Re-
spekt vor ihrem eignen Leibe beyzubringen,
um ihnen den nöthigen Respekt vor dem
Körper anderer Menschen desto einleuchten-
der zu machen. Die auf solche Art beyge-
brachte Verschämtheit und Schamhaftigkeit

uͤber die Grenze der Anſtaͤndigkeit getriebnes
Entbloͤßen des Halſes hinten und vorn,
das ich gleichwohl auch ſonſt Takt fuͤr De-
corum
habende Damen ſich erlauben ſah,
die Schonung des andern Geſchlechts abge-
nommen habe. Daß die Ehemaͤnner uͤber
ſolche Zurſchautragung und Aublicksgeſtat-
tungen nicht eiferſuͤchtig werden, iſt kein
gutes Zeichen. Wenn die Vorzeit dieſe Reiz-
parthien vielleicht zu ſehr verhuͤllte, berech-
tigt das, ſie jetzt ſperrweit zu oͤffnen?

Fruͤh ſollten die Eltern darauf bedacht
ſeyn, die Kinder verſchaͤmt zu machen; denn
da es bey unſern Sitten unmoͤglich gewor-
den, alle Theile des Koͤrpers ſo gleichguͤltig
anzuſehen wie Haͤnde oder Naſen, ſo iſt es
um ſo nothwendiger, die Kinder zu einem ge-
wiſſen Unterſchiedmachen unter den Gliedern
zu gewoͤhnen, doch muß ſolches mit großer
Vorſichtigkeit geſchehen, damit letztre ſie nicht
zu einer nachtheiligen Neugierde verleite.
Es waͤre gewiß nuͤtzlich, ihnen gehoͤrigen Re-
ſpekt vor ihrem eignen Leibe beyzubringen,
um ihnen den noͤthigen Reſpekt vor dem
Koͤrper anderer Menſchen deſto einleuchten-
der zu machen. Die auf ſolche Art beyge-
brachte Verſchaͤmtheit und Schamhaftigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0060" n="43"/>
u&#x0364;ber die Grenze der An&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit getriebnes<lb/>
Entblo&#x0364;ßen des Hal&#x017F;es hinten und vorn,<lb/>
das ich gleichwohl auch &#x017F;on&#x017F;t Takt fu&#x0364;r <hi rendition="#aq">De-<lb/>
corum</hi> habende Damen &#x017F;ich erlauben &#x017F;ah,<lb/>
die Schonung des andern Ge&#x017F;chlechts abge-<lb/>
nommen habe. Daß die Ehema&#x0364;nner u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;olche Zur&#x017F;chautragung und Aublicksge&#x017F;tat-<lb/>
tungen nicht eifer&#x017F;u&#x0364;chtig werden, i&#x017F;t kein<lb/>
gutes Zeichen. Wenn die Vorzeit die&#x017F;e Reiz-<lb/>
parthien vielleicht zu &#x017F;ehr verhu&#x0364;llte, berech-<lb/>
tigt das, &#x017F;ie jetzt &#x017F;perrweit zu o&#x0364;ffnen?</p><lb/>
        <p>Fru&#x0364;h &#x017F;ollten die Eltern darauf bedacht<lb/>
&#x017F;eyn, die Kinder ver&#x017F;cha&#x0364;mt zu machen; denn<lb/>
da es bey un&#x017F;ern Sitten unmo&#x0364;glich gewor-<lb/>
den, alle Theile des Ko&#x0364;rpers &#x017F;o gleichgu&#x0364;ltig<lb/>
anzu&#x017F;ehen wie Ha&#x0364;nde oder Na&#x017F;en, &#x017F;o i&#x017F;t es<lb/>
um &#x017F;o nothwendiger, die Kinder zu einem ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Unter&#x017F;chiedmachen unter den Gliedern<lb/>
zu gewo&#x0364;hnen, doch muß &#x017F;olches mit großer<lb/>
Vor&#x017F;ichtigkeit ge&#x017F;chehen, damit letztre &#x017F;ie nicht<lb/>
zu einer nachtheiligen Neugierde verleite.<lb/>
Es wa&#x0364;re gewiß nu&#x0364;tzlich, ihnen geho&#x0364;rigen Re-<lb/>
&#x017F;pekt vor ihrem eignen Leibe beyzubringen,<lb/>
um ihnen den no&#x0364;thigen Re&#x017F;pekt vor dem<lb/>
Ko&#x0364;rper anderer Men&#x017F;chen de&#x017F;to einleuchten-<lb/>
der zu machen. Die auf &#x017F;olche Art beyge-<lb/>
brachte Ver&#x017F;cha&#x0364;mtheit und Schamhaftigkeit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0060] uͤber die Grenze der Anſtaͤndigkeit getriebnes Entbloͤßen des Halſes hinten und vorn, das ich gleichwohl auch ſonſt Takt fuͤr De- corum habende Damen ſich erlauben ſah, die Schonung des andern Geſchlechts abge- nommen habe. Daß die Ehemaͤnner uͤber ſolche Zurſchautragung und Aublicksgeſtat- tungen nicht eiferſuͤchtig werden, iſt kein gutes Zeichen. Wenn die Vorzeit dieſe Reiz- parthien vielleicht zu ſehr verhuͤllte, berech- tigt das, ſie jetzt ſperrweit zu oͤffnen? Fruͤh ſollten die Eltern darauf bedacht ſeyn, die Kinder verſchaͤmt zu machen; denn da es bey unſern Sitten unmoͤglich gewor- den, alle Theile des Koͤrpers ſo gleichguͤltig anzuſehen wie Haͤnde oder Naſen, ſo iſt es um ſo nothwendiger, die Kinder zu einem ge- wiſſen Unterſchiedmachen unter den Gliedern zu gewoͤhnen, doch muß ſolches mit großer Vorſichtigkeit geſchehen, damit letztre ſie nicht zu einer nachtheiligen Neugierde verleite. Es waͤre gewiß nuͤtzlich, ihnen gehoͤrigen Re- ſpekt vor ihrem eignen Leibe beyzubringen, um ihnen den noͤthigen Reſpekt vor dem Koͤrper anderer Menſchen deſto einleuchten- der zu machen. Die auf ſolche Art beyge- brachte Verſchaͤmtheit und Schamhaftigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/60
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/60>, abgerufen am 04.05.2024.