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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben
I Band). Gellert und Neukirch streuten
also die ersten Funken auf mein poetisches
Zündkraut, das seitdem unaufhörlich, manch-
mal bis zum blauen Flämmchen geglimmet
hat. Jm letzten Schulhalbenjahr sagt' ich
in einer wöchentlich gehaltnen sogenannten
Deklamirstunde, außer einigen Reden des
Curtius, das ganze erste Buch des neukirch-
schen Telemachs her, welches beyfälliger auf-
genommen wurde, wie der erste Gesang der
Messiade, den ein Mitschüler vorzustolpern
begann. Meine ersten Versuche waren Ueber-
setzungen aus dem Aesop und geistliche Lie-
der, die auf meine über alles geliebte Mut-
ter einen solchen Eindruck machten, daß sie,
seitdem sie mein erstes Lied gelesen, ganz
unterließ, ihre mütterlichen Zurechtweisungen
mit raschen Backenstreichen zu besiegeln, ob
diese gleich unsre wechselseitige Liebe nicht im
mindesten gestört hatten, weil wirkliches
Böseseyn oder langes Schmollen in unserm
Hause gar nicht Statt zu haben schien. Jch
behandelte meine Mutter ganz wie meine
Schwestern, die sich zu meinen Knabenspie-
len bequemten und sich so wenig wie ich
nach Umgang mit andern Kindern umsahen.

Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben
I Band). Gellert und Neukirch ſtreuten
alſo die erſten Funken auf mein poetiſches
Zuͤndkraut, das ſeitdem unaufhoͤrlich, manch-
mal bis zum blauen Flaͤmmchen geglimmet
hat. Jm letzten Schulhalbenjahr ſagt’ ich
in einer woͤchentlich gehaltnen ſogenannten
Deklamirſtunde, außer einigen Reden des
Curtius, das ganze erſte Buch des neukirch-
ſchen Telemachs her, welches beyfaͤlliger auf-
genommen wurde, wie der erſte Geſang der
Meſſiade, den ein Mitſchuͤler vorzuſtolpern
begann. Meine erſten Verſuche waren Ueber-
ſetzungen aus dem Aeſop und geiſtliche Lie-
der, die auf meine uͤber alles geliebte Mut-
ter einen ſolchen Eindruck machten, daß ſie,
ſeitdem ſie mein erſtes Lied geleſen, ganz
unterließ, ihre muͤtterlichen Zurechtweiſungen
mit raſchen Backenſtreichen zu beſiegeln, ob
dieſe gleich unſre wechſelſeitige Liebe nicht im
mindeſten geſtoͤrt hatten, weil wirkliches
Boͤſeſeyn oder langes Schmollen in unſerm
Hauſe gar nicht Statt zu haben ſchien. Jch
behandelte meine Mutter ganz wie meine
Schweſtern, die ſich zu meinen Knabenſpie-
len bequemten und ſich ſo wenig wie ich
nach Umgang mit andern Kindern umſahen.

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[29/0046] Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben I Band). Gellert und Neukirch ſtreuten alſo die erſten Funken auf mein poetiſches Zuͤndkraut, das ſeitdem unaufhoͤrlich, manch- mal bis zum blauen Flaͤmmchen geglimmet hat. Jm letzten Schulhalbenjahr ſagt’ ich in einer woͤchentlich gehaltnen ſogenannten Deklamirſtunde, außer einigen Reden des Curtius, das ganze erſte Buch des neukirch- ſchen Telemachs her, welches beyfaͤlliger auf- genommen wurde, wie der erſte Geſang der Meſſiade, den ein Mitſchuͤler vorzuſtolpern begann. Meine erſten Verſuche waren Ueber- ſetzungen aus dem Aeſop und geiſtliche Lie- der, die auf meine uͤber alles geliebte Mut- ter einen ſolchen Eindruck machten, daß ſie, ſeitdem ſie mein erſtes Lied geleſen, ganz unterließ, ihre muͤtterlichen Zurechtweiſungen mit raſchen Backenſtreichen zu beſiegeln, ob dieſe gleich unſre wechſelſeitige Liebe nicht im mindeſten geſtoͤrt hatten, weil wirkliches Boͤſeſeyn oder langes Schmollen in unſerm Hauſe gar nicht Statt zu haben ſchien. Jch behandelte meine Mutter ganz wie meine Schweſtern, die ſich zu meinen Knabenſpie- len bequemten und ſich ſo wenig wie ich nach Umgang mit andern Kindern umſahen.

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/46>, abgerufen am 18.04.2024.