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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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kömmen würde, was Cicero in seinen qua-
tuor causis, cur senectus misera videatur,

einige aber sehr treffend gefunden habe, und
das wohl eine ruhige, bey Leibe nicht absprechen-
de Prüfung verdient. "Die scheinbare Entkräf-
"tung, welche in der letzten Zeit des Lebens
"eintritt, ist vielmehr ein Zeuge, daß der Keim
"höherer Kräfte die Hülle des jetzigen Daseyns
"zu zerreißen strebt, daß die Bedürfniße und der
"Dienst des Lebens erfüllt, die Schuld des jetzi-
"gen Daseyns bezahlt sey, und daß nun das
"Jndividuum der Freyheit und dem Genuß eines
"höhern Daseyns entgegenreift. -- -- -- --
"Das schwache Alter, nach einem thatenreichen
"Leben, ist nicht zu beklagen, sondern selig zu
"sprechen, und oft geschieht es, daß noch in
"den Stunden des letzten Verlöschens die Schwin-
"gen eines neuen höhern Daseyns, wie schnelle
"Blitze sichtbar werden. Ja, der schwache Greis,
"welcher nach einem Leben voller Blüthen und
"Genüsse, nach wohl durchkämpfter Jugend
"und nach vollendetem Tagewerk, das Maas
"der innern Kräfte vollkommen verzehrt hat,
"und welcher nun ohne Liebe und Haß, ohne
"Bedürfniß und Wirksamkeit nach aussen, ohne
"Bewußtseyn, ja selbst ohne Gedanken der schö-
"nen durchlebten Zeiten, ohne Blick in das künf-
"tige, ohne Empfindung der Gegenwart, hülf-
"loser scheint als der Säugling, ist vor andern
"glücklich zu preisen, welche das Leben, das sich
"allein im Wirken vollendet, unnöthig gespart

koͤmmen wuͤrde, was Cicero in ſeinen qua-
tuor cauſis, cur ſenectus miſera videatur,

einige aber ſehr treffend gefunden habe, und
das wohl eine ruhige, bey Leibe nicht abſprechen-
de Pruͤfung verdient. „Die ſcheinbare Entkraͤf-
„tung, welche in der letzten Zeit des Lebens
„eintritt, iſt vielmehr ein Zeuge, daß der Keim
„hoͤherer Kraͤfte die Huͤlle des jetzigen Daſeyns
„zu zerreißen ſtrebt, daß die Beduͤrfniße und der
„Dienſt des Lebens erfuͤllt, die Schuld des jetzi-
„gen Daſeyns bezahlt ſey, und daß nun das
„Jndividuum der Freyheit und dem Genuß eines
„hoͤhern Daſeyns entgegenreift. — — — —
„Das ſchwache Alter, nach einem thatenreichen
„Leben, iſt nicht zu beklagen, ſondern ſelig zu
„ſprechen, und oft geſchieht es, daß noch in
„den Stunden des letzten Verloͤſchens die Schwin-
„gen eines neuen hoͤhern Daſeyns, wie ſchnelle
„Blitze ſichtbar werden. Ja, der ſchwache Greis,
„welcher nach einem Leben voller Bluͤthen und
„Genuͤſſe, nach wohl durchkaͤmpfter Jugend
„und nach vollendetem Tagewerk, das Maas
„der innern Kraͤfte vollkommen verzehrt hat,
„und welcher nun ohne Liebe und Haß, ohne
„Beduͤrfniß und Wirkſamkeit nach auſſen, ohne
„Bewußtſeyn, ja ſelbſt ohne Gedanken der ſchoͤ-
„nen durchlebten Zeiten, ohne Blick in das kuͤnf-
„tige, ohne Empfindung der Gegenwart, huͤlf-
„loſer ſcheint als der Saͤugling, iſt vor andern
„gluͤcklich zu preiſen, welche das Leben, das ſich
„allein im Wirken vollendet, unnoͤthig geſpart
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[395/0412] koͤmmen wuͤrde, was Cicero in ſeinen qua- tuor cauſis, cur ſenectus miſera videatur, **) **) einige aber ſehr treffend gefunden habe, und das wohl eine ruhige, bey Leibe nicht abſprechen- de Pruͤfung verdient. „Die ſcheinbare Entkraͤf- „tung, welche in der letzten Zeit des Lebens „eintritt, iſt vielmehr ein Zeuge, daß der Keim „hoͤherer Kraͤfte die Huͤlle des jetzigen Daſeyns „zu zerreißen ſtrebt, daß die Beduͤrfniße und der „Dienſt des Lebens erfuͤllt, die Schuld des jetzi- „gen Daſeyns bezahlt ſey, und daß nun das „Jndividuum der Freyheit und dem Genuß eines „hoͤhern Daſeyns entgegenreift. — — — — „Das ſchwache Alter, nach einem thatenreichen „Leben, iſt nicht zu beklagen, ſondern ſelig zu „ſprechen, und oft geſchieht es, daß noch in „den Stunden des letzten Verloͤſchens die Schwin- „gen eines neuen hoͤhern Daſeyns, wie ſchnelle „Blitze ſichtbar werden. Ja, der ſchwache Greis, „welcher nach einem Leben voller Bluͤthen und „Genuͤſſe, nach wohl durchkaͤmpfter Jugend „und nach vollendetem Tagewerk, das Maas „der innern Kraͤfte vollkommen verzehrt hat, „und welcher nun ohne Liebe und Haß, ohne „Beduͤrfniß und Wirkſamkeit nach auſſen, ohne „Bewußtſeyn, ja ſelbſt ohne Gedanken der ſchoͤ- „nen durchlebten Zeiten, ohne Blick in das kuͤnf- „tige, ohne Empfindung der Gegenwart, huͤlf- „loſer ſcheint als der Saͤugling, iſt vor andern „gluͤcklich zu preiſen, welche das Leben, das ſich „allein im Wirken vollendet, unnoͤthig geſpart

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/412>, abgerufen am 22.11.2024.