Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

So ungewiß ich über die Entscheidung
der Frage bin: ob es besser sey, die Cha-
rakterschilderung vorausgehen und die bio-
graphischen Thatsachen als einen Codex di-
plomaticus
nachfolgen zu lassen, oder erstere
bis ans Ende zu verschieben, so gewiß bin
ich von der Schwierigkeit, einen Charakter
treffend zu schildern, zumal es dem Selbst-
biographen keinesweges frei steht, ad mo-
dum
des Theophrast und la Bruyere, Züge
von mancherley Originalen zusammen zu
stellen, sondern er verpflichtet ist, von seiner
Jndividualität nicht abzuweichen, mithin
ohne Vorurtheil für sein liebes Jch, und
ohne, meistens doch nur geheuchelte, Selbst-
erniedrigung seiner Jchheit, diese zu be-
schreiben. Ohne Selbsterkenntniß kann ihm
solche Zeichnung sicher nicht gelingen, und
es thut mir jetzt doppelt wohl, daß ich das:
Erkenne dich selbst *), schon früh für

*) Der bekannte Charron fängt sein Buch de la
Sagesse,
sehr recht mit folgender Stelle an: Le
plus excellent et divin conseil, le meilleur et
le plus urile advertissement de tous, mais le
plus mal pratique est, de s'estudier et appreu-
dre a se cognoistre. C'est le fondement de
sagesse et acheminement a tout bien; c'est folio

So ungewiß ich uͤber die Entſcheidung
der Frage bin: ob es beſſer ſey, die Cha-
rakterſchilderung vorausgehen und die bio-
graphiſchen Thatſachen als einen Codex di-
plomaticus
nachfolgen zu laſſen, oder erſtere
bis ans Ende zu verſchieben, ſo gewiß bin
ich von der Schwierigkeit, einen Charakter
treffend zu ſchildern, zumal es dem Selbſt-
biographen keinesweges frei ſteht, ad mo-
dum
des Theophraſt und la Bruyere, Zuͤge
von mancherley Originalen zuſammen zu
ſtellen, ſondern er verpflichtet iſt, von ſeiner
Jndividualitaͤt nicht abzuweichen, mithin
ohne Vorurtheil fuͤr ſein liebes Jch, und
ohne, meiſtens doch nur geheuchelte, Selbſt-
erniedrigung ſeiner Jchheit, dieſe zu be-
ſchreiben. Ohne Selbſterkenntniß kann ihm
ſolche Zeichnung ſicher nicht gelingen, und
es thut mir jetzt doppelt wohl, daß ich das:
Erkenne dich ſelbſt *), ſchon fruͤh fuͤr

*) Der bekannte Charron faͤngt ſein Buch de la
Sagesse,
ſehr recht mit folgender Stelle an: Le
plus excellent et divin conſeil, le meilleur et
le plus urile advertissement de tous, mais le
plus mal pratiqué eſt, de ſ’eſtudier et appreu-
dre à ſe cognoiſtre. C’eſt le fondement de
ſageſſe et acheminement à tout bien; c’eſt folio
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0342" n="325"/>
        <p>So ungewiß ich u&#x0364;ber die Ent&#x017F;cheidung<lb/>
der Frage bin: ob es be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ey, die Cha-<lb/>
rakter&#x017F;childerung vorausgehen und die bio-<lb/>
graphi&#x017F;chen That&#x017F;achen als einen <hi rendition="#aq">Codex di-<lb/>
plomaticus</hi> nachfolgen zu la&#x017F;&#x017F;en, oder er&#x017F;tere<lb/>
bis ans Ende zu ver&#x017F;chieben, &#x017F;o gewiß bin<lb/>
ich von der Schwierigkeit, einen Charakter<lb/>
treffend zu &#x017F;childern, zumal es dem Selb&#x017F;t-<lb/>
biographen keinesweges frei &#x017F;teht, <hi rendition="#aq">ad mo-<lb/>
dum</hi> des Theophra&#x017F;t und la Bruyere, Zu&#x0364;ge<lb/>
von mancherley Originalen zu&#x017F;ammen zu<lb/>
&#x017F;tellen, &#x017F;ondern er verpflichtet i&#x017F;t, von &#x017F;einer<lb/>
Jndividualita&#x0364;t nicht abzuweichen, mithin<lb/>
ohne Vorurtheil fu&#x0364;r &#x017F;ein liebes <hi rendition="#g">Jch,</hi> und<lb/>
ohne, mei&#x017F;tens doch nur geheuchelte, Selb&#x017F;t-<lb/>
erniedrigung &#x017F;einer Jchheit, die&#x017F;e zu be-<lb/>
&#x017F;chreiben. Ohne Selb&#x017F;terkenntniß kann ihm<lb/>
&#x017F;olche Zeichnung &#x017F;icher nicht gelingen, und<lb/>
es thut mir jetzt doppelt wohl, daß ich das:<lb/><hi rendition="#g">Erkenne dich &#x017F;elb&#x017F;t</hi> <note xml:id="seg2pn_29_1" next="#seg2pn_29_2" place="foot" n="*)">Der bekannte Charron fa&#x0364;ngt &#x017F;ein Buch <hi rendition="#aq">de la<lb/>
Sagesse,</hi> &#x017F;ehr recht mit folgender Stelle an: <cit><quote><hi rendition="#aq">Le<lb/>
plus excellent et divin con&#x017F;eil, le meilleur et<lb/>
le plus urile advertissement de tous, mais le<lb/>
plus mal pratiqué e&#x017F;t, de &#x017F;&#x2019;e&#x017F;tudier et appreu-<lb/>
dre à &#x017F;e cognoi&#x017F;tre. C&#x2019;e&#x017F;t le fondement de<lb/>
&#x017F;age&#x017F;&#x017F;e et acheminement à tout bien; c&#x2019;e&#x017F;t folio</hi></quote></cit></note>, &#x017F;chon fru&#x0364;h fu&#x0364;r<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0342] So ungewiß ich uͤber die Entſcheidung der Frage bin: ob es beſſer ſey, die Cha- rakterſchilderung vorausgehen und die bio- graphiſchen Thatſachen als einen Codex di- plomaticus nachfolgen zu laſſen, oder erſtere bis ans Ende zu verſchieben, ſo gewiß bin ich von der Schwierigkeit, einen Charakter treffend zu ſchildern, zumal es dem Selbſt- biographen keinesweges frei ſteht, ad mo- dum des Theophraſt und la Bruyere, Zuͤge von mancherley Originalen zuſammen zu ſtellen, ſondern er verpflichtet iſt, von ſeiner Jndividualitaͤt nicht abzuweichen, mithin ohne Vorurtheil fuͤr ſein liebes Jch, und ohne, meiſtens doch nur geheuchelte, Selbſt- erniedrigung ſeiner Jchheit, dieſe zu be- ſchreiben. Ohne Selbſterkenntniß kann ihm ſolche Zeichnung ſicher nicht gelingen, und es thut mir jetzt doppelt wohl, daß ich das: Erkenne dich ſelbſt *), ſchon fruͤh fuͤr *) Der bekannte Charron faͤngt ſein Buch de la Sagesse, ſehr recht mit folgender Stelle an: Le plus excellent et divin conſeil, le meilleur et le plus urile advertissement de tous, mais le plus mal pratiqué eſt, de ſ’eſtudier et appreu- dre à ſe cognoiſtre. C’eſt le fondement de ſageſſe et acheminement à tout bien; c’eſt folio

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/342
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/342>, abgerufen am 22.11.2024.