Auf dem Gipfel des hohen Twiel innerhalb der Burgmauern war ein zierlich Gärtlein angelegt; ein steiler Felsvorsprung von Mauer- werk eingefaßt umschloß den mäßigen Raum. Es war ein feiner Platz als wie eine Hochwacht, denn steil abwärts sprang der Fels, also daß man über die Brüstung gelehnt einen Stein mochte hinab- schleudern in's tiefe Thal, und wer sich am Ausspähen erfreute, der mochte Umschau halten über Berg und Fläche und See und Alpen- gipfel, keine Schranke hemmte den Blick.
Im Eckwinkel des Gärtleins ließ ein alter Ahorn vergnüglich seine Wipfel im Winde rauschen, schon war das beflügelte Samen- korn reif und gebräunt und wirbelte auf die schwarze Blumenerde hernieder; -- eine Leiter war an den grüngrauen Stamm gelehnt, zu Füßen stand Praxedis und hielt die Enden eines schweren langen Zeltgetüchs, in den Aesten aber saß Burkard der Klosterschüler mit Nagel und Hammer und suchte das Tuch festzunageln.
Achtung! rief Praxedis, ich glaube du schauest dem Storch nach, der dem Kirchthurm von Radolf's Zelle entgegen fliegt. Paß auf, du Ehrenpreis aller lateinischen Schüler, und schlag' mir den Nagel nicht neben den Ast.
Praxedis hatte das Tuch mit der Linken empor gehalten, jetzt ließ es der Klosterschüler fahren, da zog sich's gewichtig herab, riß von dem lässig eingeschlagenen Nagel, und sank schwerfällig, so daß die Griechin schier ganz drein begraben ward.
Warte, Pfuscher! schalt Praxedis, wie sie sich aus der groben Umhüllung vorgewickelt, ich werd' einmal nachsehen, ob es keine grauen Haare mehr abzuschneiden gibt.
Zwanzigſtes Kapitel. Von deutſcher Heldenſage.
Auf dem Gipfel des hohen Twiel innerhalb der Burgmauern war ein zierlich Gärtlein angelegt; ein ſteiler Felsvorſprung von Mauer- werk eingefaßt umſchloß den mäßigen Raum. Es war ein feiner Platz als wie eine Hochwacht, denn ſteil abwärts ſprang der Fels, alſo daß man über die Brüſtung gelehnt einen Stein mochte hinab- ſchleudern in's tiefe Thal, und wer ſich am Ausſpähen erfreute, der mochte Umſchau halten über Berg und Fläche und See und Alpen- gipfel, keine Schranke hemmte den Blick.
Im Eckwinkel des Gärtleins ließ ein alter Ahorn vergnüglich ſeine Wipfel im Winde rauſchen, ſchon war das beflügelte Samen- korn reif und gebräunt und wirbelte auf die ſchwarze Blumenerde hernieder; — eine Leiter war an den grüngrauen Stamm gelehnt, zu Füßen ſtand Praxedis und hielt die Enden eines ſchweren langen Zeltgetüchs, in den Aeſten aber ſaß Burkard der Kloſterſchüler mit Nagel und Hammer und ſuchte das Tuch feſtzunageln.
Achtung! rief Praxedis, ich glaube du ſchaueſt dem Storch nach, der dem Kirchthurm von Radolf's Zelle entgegen fliegt. Paß auf, du Ehrenpreis aller lateiniſchen Schüler, und ſchlag' mir den Nagel nicht neben den Aſt.
Praxedis hatte das Tuch mit der Linken empor gehalten, jetzt ließ es der Kloſterſchüler fahren, da zog ſich's gewichtig herab, riß von dem läſſig eingeſchlagenen Nagel, und ſank ſchwerfällig, ſo daß die Griechin ſchier ganz drein begraben ward.
Warte, Pfuſcher! ſchalt Praxedis, wie ſie ſich aus der groben Umhüllung vorgewickelt, ich werd' einmal nachſehen, ob es keine grauen Haare mehr abzuſchneiden gibt.
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Zwanzigſtes Kapitel.
Von deutſcher Heldenſage.
Auf dem Gipfel des hohen Twiel innerhalb der Burgmauern war
ein zierlich Gärtlein angelegt; ein ſteiler Felsvorſprung von Mauer-
werk eingefaßt umſchloß den mäßigen Raum. Es war ein feiner
Platz als wie eine Hochwacht, denn ſteil abwärts ſprang der Fels,
alſo daß man über die Brüſtung gelehnt einen Stein mochte hinab-
ſchleudern in's tiefe Thal, und wer ſich am Ausſpähen erfreute, der
mochte Umſchau halten über Berg und Fläche und See und Alpen-
gipfel, keine Schranke hemmte den Blick.
Im Eckwinkel des Gärtleins ließ ein alter Ahorn vergnüglich
ſeine Wipfel im Winde rauſchen, ſchon war das beflügelte Samen-
korn reif und gebräunt und wirbelte auf die ſchwarze Blumenerde
hernieder; — eine Leiter war an den grüngrauen Stamm gelehnt, zu
Füßen ſtand Praxedis und hielt die Enden eines ſchweren langen
Zeltgetüchs, in den Aeſten aber ſaß Burkard der Kloſterſchüler mit
Nagel und Hammer und ſuchte das Tuch feſtzunageln.
Achtung! rief Praxedis, ich glaube du ſchaueſt dem Storch nach,
der dem Kirchthurm von Radolf's Zelle entgegen fliegt. Paß auf, du
Ehrenpreis aller lateiniſchen Schüler, und ſchlag' mir den Nagel nicht
neben den Aſt.
Praxedis hatte das Tuch mit der Linken empor gehalten, jetzt
ließ es der Kloſterſchüler fahren, da zog ſich's gewichtig herab, riß
von dem läſſig eingeſchlagenen Nagel, und ſank ſchwerfällig, ſo daß
die Griechin ſchier ganz drein begraben ward.
Warte, Pfuſcher! ſchalt Praxedis, wie ſie ſich aus der groben
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Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/303>, abgerufen am 21.11.2024.
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