Schefer, Leopold: Die Düvecke, oder die Leiden einer Königin. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–119. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Die andere Scene war diese: Auf dem Altan des Gasthauses stand die Jungfrau Düvecke, ein ungemein schönes Mädchen, mit niedergesenkten Augen, und ein Anderer hätte gemeint, sie schlage sie vor dem kraftvollen goldenen Scheine der Abendsonne nieder; aber ihre Mutter wußte, ihre einzige liebe Tochter schlage sie vor dem Anblick des Schiffes nieder; denn Düvecke sprach leise und zaghaft zu ihrer Mutter: Der Himmel will selber nicht, daß der leichtsinnige Herr zu uns kommt! Sein Wind drückt ihn zurück! O, wenn er ihn doch verschlüge, fort, weit zurück nach Island oder unter die Eisschollen, wo -- -- Wo ihn ein Eisbär zerrisse und fräße! nicht wahr, du junge Närrin! sprach ihre Mutter Sigbritte vor Unmuth lachend. Närrin? frug Düvecke gleichsam den purpurnen Abendhimmel und die heilig und rein und groß und göttlich daherschauende Sonne mehr als ihre halsstarrige Mutter. Sigbritte aber ergriff ihre Hand, drückte sie erst bis zum Wehthun, ließ dann allmählich nach und sprach sich bezwingend: Siehe, mein Kind, du bist mein Kind, meine einzige Tochter! Wir leben nicht im Himmel, sondern hier unter den Wolken auf Erden, am unwirthbaren Meer, in der Stadt Bergen, unter Menschen, die norwegisch sprechen und deren Zuspruch wir brauchen -- sonst verhungern wir; denn dein Vater hat uns durch kein nachgelassenes Vermögen über die Sorge der Die andere Scene war diese: Auf dem Altan des Gasthauses stand die Jungfrau Düvecke, ein ungemein schönes Mädchen, mit niedergesenkten Augen, und ein Anderer hätte gemeint, sie schlage sie vor dem kraftvollen goldenen Scheine der Abendsonne nieder; aber ihre Mutter wußte, ihre einzige liebe Tochter schlage sie vor dem Anblick des Schiffes nieder; denn Düvecke sprach leise und zaghaft zu ihrer Mutter: Der Himmel will selber nicht, daß der leichtsinnige Herr zu uns kommt! Sein Wind drückt ihn zurück! O, wenn er ihn doch verschlüge, fort, weit zurück nach Island oder unter die Eisschollen, wo — — Wo ihn ein Eisbär zerrisse und fräße! nicht wahr, du junge Närrin! sprach ihre Mutter Sigbritte vor Unmuth lachend. Närrin? frug Düvecke gleichsam den purpurnen Abendhimmel und die heilig und rein und groß und göttlich daherschauende Sonne mehr als ihre halsstarrige Mutter. Sigbritte aber ergriff ihre Hand, drückte sie erst bis zum Wehthun, ließ dann allmählich nach und sprach sich bezwingend: Siehe, mein Kind, du bist mein Kind, meine einzige Tochter! Wir leben nicht im Himmel, sondern hier unter den Wolken auf Erden, am unwirthbaren Meer, in der Stadt Bergen, unter Menschen, die norwegisch sprechen und deren Zuspruch wir brauchen — sonst verhungern wir; denn dein Vater hat uns durch kein nachgelassenes Vermögen über die Sorge der <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0010"/> <p>Die andere Scene war diese: Auf dem Altan des Gasthauses stand die Jungfrau Düvecke, ein ungemein schönes Mädchen, mit niedergesenkten Augen, und ein Anderer hätte gemeint, sie schlage sie vor dem kraftvollen goldenen Scheine der Abendsonne nieder; aber ihre Mutter wußte, ihre einzige liebe Tochter schlage sie vor dem Anblick des Schiffes nieder; denn Düvecke sprach leise und zaghaft zu ihrer Mutter: Der Himmel will selber nicht, daß der leichtsinnige Herr zu uns kommt! Sein Wind drückt ihn zurück! O, wenn er ihn doch verschlüge, fort, weit zurück nach Island oder unter die Eisschollen, wo — —</p><lb/> <p>Wo ihn ein Eisbär zerrisse und fräße! nicht wahr, du junge Närrin! sprach ihre Mutter Sigbritte vor Unmuth lachend.</p><lb/> <p>Närrin? frug Düvecke gleichsam den purpurnen Abendhimmel und die heilig und rein und groß und göttlich daherschauende Sonne mehr als ihre halsstarrige Mutter.</p><lb/> <p>Sigbritte aber ergriff ihre Hand, drückte sie erst bis zum Wehthun, ließ dann allmählich nach und sprach sich bezwingend: Siehe, mein Kind, du bist mein Kind, meine einzige Tochter! Wir leben nicht im Himmel, sondern hier unter den Wolken auf Erden, am unwirthbaren Meer, in der Stadt Bergen, unter Menschen, die norwegisch sprechen und deren Zuspruch wir brauchen — sonst verhungern wir; denn dein Vater hat uns durch kein nachgelassenes Vermögen über die Sorge der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
Die andere Scene war diese: Auf dem Altan des Gasthauses stand die Jungfrau Düvecke, ein ungemein schönes Mädchen, mit niedergesenkten Augen, und ein Anderer hätte gemeint, sie schlage sie vor dem kraftvollen goldenen Scheine der Abendsonne nieder; aber ihre Mutter wußte, ihre einzige liebe Tochter schlage sie vor dem Anblick des Schiffes nieder; denn Düvecke sprach leise und zaghaft zu ihrer Mutter: Der Himmel will selber nicht, daß der leichtsinnige Herr zu uns kommt! Sein Wind drückt ihn zurück! O, wenn er ihn doch verschlüge, fort, weit zurück nach Island oder unter die Eisschollen, wo — —
Wo ihn ein Eisbär zerrisse und fräße! nicht wahr, du junge Närrin! sprach ihre Mutter Sigbritte vor Unmuth lachend.
Närrin? frug Düvecke gleichsam den purpurnen Abendhimmel und die heilig und rein und groß und göttlich daherschauende Sonne mehr als ihre halsstarrige Mutter.
Sigbritte aber ergriff ihre Hand, drückte sie erst bis zum Wehthun, ließ dann allmählich nach und sprach sich bezwingend: Siehe, mein Kind, du bist mein Kind, meine einzige Tochter! Wir leben nicht im Himmel, sondern hier unter den Wolken auf Erden, am unwirthbaren Meer, in der Stadt Bergen, unter Menschen, die norwegisch sprechen und deren Zuspruch wir brauchen — sonst verhungern wir; denn dein Vater hat uns durch kein nachgelassenes Vermögen über die Sorge der
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