Kein Affekt ist überraschender, als dieser, ja er kann nie ohne Ueberraschung zur Wirklichkeit kommen. Wenn man erst dem zugefügten Uebel weiter nachdenkt, so vergißt man über dem Uebel des Urhebers, und kann wohl in andre Affekten der Unlust, nur nicht in Zorn versetzt werden, denn dieser erfodert immer, daß die Vorstellung desjenigen, durch den uns das Uebel zugefügt wurde, gegenwärtig ist, daß wir ihn in dem Moment des Handelns gegen uns wirklich oder in der Phantasie sehen.
Alle Aeußerungen des Zornigen beweisen, daß sein Affekt nicht sowohl auf das Uebel, von dessen Empfindung er veranlaßt wurde, als auf den Ur- heber desselben geht. Er klagt nicht über seinen verschlimmerten Zustand, sondern schimpft und schmäht auf seinen Feind: denkt nicht auf Ret- tung, Beschützung, Verbesserung, sondern rast wider den Beleidiger, ohne darauf zu achten, ob er Uebel ärger mache, sich blos gebe, sich ins Verderben stürze: er bekümmert sich nicht um das, was sein Uebel vermindern, sondern nur darum, was den Nachdruck seines Zorns verstär- ken kann; er rüstet alle äußere Glieder mit Kraft, vorzüglich aber wafnet er diejenigen, die zum Angreifen, zum Fassen und zum Zerstören ge- schickt sind*); er sucht entweder unmittelbar den
Be-
*) Engels Mimik 1. 207.
Kein Affekt iſt uͤberraſchender, als dieſer, ja er kann nie ohne Ueberraſchung zur Wirklichkeit kommen. Wenn man erſt dem zugefuͤgten Uebel weiter nachdenkt, ſo vergißt man uͤber dem Uebel des Urhebers, und kann wohl in andre Affekten der Unluſt, nur nicht in Zorn verſetzt werden, denn dieſer erfodert immer, daß die Vorſtellung desjenigen, durch den uns das Uebel zugefuͤgt wurde, gegenwaͤrtig iſt, daß wir ihn in dem Moment des Handelns gegen uns wirklich oder in der Phantaſie ſehen.
Alle Aeußerungen des Zornigen beweiſen, daß ſein Affekt nicht ſowohl auf das Uebel, von deſſen Empfindung er veranlaßt wurde, als auf den Ur- heber deſſelben geht. Er klagt nicht uͤber ſeinen verſchlimmerten Zuſtand, ſondern ſchimpft und ſchmaͤht auf ſeinen Feind: denkt nicht auf Ret- tung, Beſchuͤtzung, Verbeſſerung, ſondern raſt wider den Beleidiger, ohne darauf zu achten, ob er Uebel aͤrger mache, ſich blos gebe, ſich ins Verderben ſtuͤrze: er bekuͤmmert ſich nicht um das, was ſein Uebel vermindern, ſondern nur darum, was den Nachdruck ſeines Zorns verſtaͤr- ken kann; er ruͤſtet alle aͤußere Glieder mit Kraft, vorzuͤglich aber wafnet er diejenigen, die zum Angreifen, zum Faſſen und zum Zerſtoͤren ge- ſchickt ſind*); er ſucht entweder unmittelbar den
Be-
*) Engels Mimik 1. 207.
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Kein Affekt iſt uͤberraſchender, als dieſer, ja
er kann nie ohne Ueberraſchung zur Wirklichkeit
kommen. Wenn man erſt dem zugefuͤgten Uebel
weiter nachdenkt, ſo vergißt man uͤber dem Uebel
des Urhebers, und kann wohl in andre Affekten
der Unluſt, nur nicht in Zorn verſetzt werden,
denn dieſer erfodert immer, daß die Vorſtellung
desjenigen, durch den uns das Uebel zugefuͤgt
wurde, gegenwaͤrtig iſt, daß wir ihn in dem
Moment des Handelns gegen uns wirklich oder
in der Phantaſie ſehen.
Alle Aeußerungen des Zornigen beweiſen, daß
ſein Affekt nicht ſowohl auf das Uebel, von deſſen
Empfindung er veranlaßt wurde, als auf den Ur-
heber deſſelben geht. Er klagt nicht uͤber ſeinen
verſchlimmerten Zuſtand, ſondern ſchimpft und
ſchmaͤht auf ſeinen Feind: denkt nicht auf Ret-
tung, Beſchuͤtzung, Verbeſſerung, ſondern raſt
wider den Beleidiger, ohne darauf zu achten, ob
er Uebel aͤrger mache, ſich blos gebe, ſich ins
Verderben ſtuͤrze: er bekuͤmmert ſich nicht um
das, was ſein Uebel vermindern, ſondern nur
darum, was den Nachdruck ſeines Zorns verſtaͤr-
ken kann; er ruͤſtet alle aͤußere Glieder mit Kraft,
vorzuͤglich aber wafnet er diejenigen, die zum
Angreifen, zum Faſſen und zum Zerſtoͤren ge-
ſchickt ſind *); er ſucht entweder unmittelbar den
Be-
*) Engels Mimik 1. 207.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/346>, abgerufen am 22.11.2024.
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