daß zwar der Bruder und die Schwester immer geliebt und geschätzt werden, aber doch das Ver- langen nach dem Genuß ihrer Person einige Reize verliert.
Es ist daher auch kein besseres Mittel, diesem Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren- nung. Brüder und Schwestern, die, so lange sie beysammen waren, nicht fühlten, daß sie einan- der bedurften, sondern vielleicht dachten, ohne einander noch ruhiger leben zu können, kennen, wenn sie nun getrennt sind, kein höheres Glück, als im Cirkel ihrer Geschwister zu leben. Die Phantasie hält ihrem Herzen in der Abwesenheit nur das Bild des Bruders oder der Schwester vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht durch disharmonische Züge entstellen; darum wird die Sehnsucht nach seinem Geschwister in der Entfernung so groß, die Hofnung, sie wie- derzusehen, so reizvoll, und darum ist die Freu- de der ersten Umarmung nach einer Trennung so süß.
Ein
daß zwar der Bruder und die Schweſter immer geliebt und geſchaͤtzt werden, aber doch das Ver- langen nach dem Genuß ihrer Perſon einige Reize verliert.
Es iſt daher auch kein beſſeres Mittel, dieſem Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren- nung. Bruͤder und Schweſtern, die, ſo lange ſie beyſammen waren, nicht fuͤhlten, daß ſie einan- der bedurften, ſondern vielleicht dachten, ohne einander noch ruhiger leben zu koͤnnen, kennen, wenn ſie nun getrennt ſind, kein hoͤheres Gluͤck, als im Cirkel ihrer Geſchwiſter zu leben. Die Phantaſie haͤlt ihrem Herzen in der Abweſenheit nur das Bild des Bruders oder der Schweſter vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht durch disharmoniſche Zuͤge entſtellen; darum wird die Sehnſucht nach ſeinem Geſchwiſter in der Entfernung ſo groß, die Hofnung, ſie wie- derzuſehen, ſo reizvoll, und darum iſt die Freu- de der erſten Umarmung nach einer Trennung ſo ſuͤß.
Ein
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daß zwar der Bruder und die Schweſter immer
geliebt und geſchaͤtzt werden, aber doch das Ver-
langen nach dem Genuß ihrer Perſon einige Reize
verliert.
Es iſt daher auch kein beſſeres Mittel, dieſem
Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren-
nung. Bruͤder und Schweſtern, die, ſo lange ſie
beyſammen waren, nicht fuͤhlten, daß ſie einan-
der bedurften, ſondern vielleicht dachten, ohne
einander noch ruhiger leben zu koͤnnen, kennen,
wenn ſie nun getrennt ſind, kein hoͤheres Gluͤck,
als im Cirkel ihrer Geſchwiſter zu leben. Die
Phantaſie haͤlt ihrem Herzen in der Abweſenheit
nur das Bild des Bruders oder der Schweſter
vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht
durch disharmoniſche Zuͤge entſtellen; darum
wird die Sehnſucht nach ſeinem Geſchwiſter in
der Entfernung ſo groß, die Hofnung, ſie wie-
derzuſehen, ſo reizvoll, und darum iſt die Freu-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/282>, abgerufen am 22.11.2024.
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