Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

daß zwar der Bruder und die Schwester immer
geliebt und geschätzt werden, aber doch das Ver-
langen nach dem Genuß ihrer Person einige Reize
verliert.

Es ist daher auch kein besseres Mittel, diesem
Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren-
nung. Brüder und Schwestern, die, so lange sie
beysammen waren, nicht fühlten, daß sie einan-
der bedurften, sondern vielleicht dachten, ohne
einander noch ruhiger leben zu können, kennen,
wenn sie nun getrennt sind, kein höheres Glück,
als im Cirkel ihrer Geschwister zu leben. Die
Phantasie hält ihrem Herzen in der Abwesenheit
nur das Bild des Bruders oder der Schwester
vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht
durch disharmonische Züge entstellen; darum
wird die Sehnsucht nach seinem Geschwister in
der Entfernung so groß, die Hofnung, sie wie-
derzusehen, so reizvoll, und darum ist die Freu-
de der ersten Umarmung nach einer Trennung
so süß.



Ein

daß zwar der Bruder und die Schweſter immer
geliebt und geſchaͤtzt werden, aber doch das Ver-
langen nach dem Genuß ihrer Perſon einige Reize
verliert.

Es iſt daher auch kein beſſeres Mittel, dieſem
Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren-
nung. Bruͤder und Schweſtern, die, ſo lange ſie
beyſammen waren, nicht fuͤhlten, daß ſie einan-
der bedurften, ſondern vielleicht dachten, ohne
einander noch ruhiger leben zu koͤnnen, kennen,
wenn ſie nun getrennt ſind, kein hoͤheres Gluͤck,
als im Cirkel ihrer Geſchwiſter zu leben. Die
Phantaſie haͤlt ihrem Herzen in der Abweſenheit
nur das Bild des Bruders oder der Schweſter
vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht
durch disharmoniſche Zuͤge entſtellen; darum
wird die Sehnſucht nach ſeinem Geſchwiſter in
der Entfernung ſo groß, die Hofnung, ſie wie-
derzuſehen, ſo reizvoll, und darum iſt die Freu-
de der erſten Umarmung nach einer Trennung
ſo ſuͤß.



Ein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0282" n="566"/>
daß zwar der <hi rendition="#b">Bruder</hi> und die <hi rendition="#b">Schwe&#x017F;ter</hi> immer<lb/>
geliebt und ge&#x017F;cha&#x0364;tzt werden, aber doch das Ver-<lb/>
langen nach dem Genuß ihrer Per&#x017F;on einige Reize<lb/>
verliert.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t daher auch kein be&#x017F;&#x017F;eres Mittel, die&#x017F;em<lb/>
Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren-<lb/>
nung. Bru&#x0364;der und Schwe&#x017F;tern, die, &#x017F;o lange &#x017F;ie<lb/>
bey&#x017F;ammen waren, nicht fu&#x0364;hlten, daß &#x017F;ie einan-<lb/>
der bedurften, &#x017F;ondern vielleicht dachten, ohne<lb/>
einander noch ruhiger leben zu ko&#x0364;nnen, kennen,<lb/>
wenn &#x017F;ie nun getrennt &#x017F;ind, kein ho&#x0364;heres Glu&#x0364;ck,<lb/>
als im Cirkel ihrer Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter zu leben. Die<lb/>
Phanta&#x017F;ie ha&#x0364;lt ihrem Herzen in der Abwe&#x017F;enheit<lb/>
nur das Bild des <hi rendition="#b">Bruders</hi> oder der <hi rendition="#b">Schwe&#x017F;ter</hi><lb/>
vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht<lb/>
durch disharmoni&#x017F;che Zu&#x0364;ge ent&#x017F;tellen; darum<lb/>
wird die Sehn&#x017F;ucht nach &#x017F;einem Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter in<lb/>
der Entfernung &#x017F;o groß, die Hofnung, &#x017F;ie wie-<lb/>
derzu&#x017F;ehen, &#x017F;o reizvoll, und darum i&#x017F;t die Freu-<lb/>
de der er&#x017F;ten Umarmung nach einer Trennung<lb/>
&#x017F;o &#x017F;u&#x0364;ß.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[566/0282] daß zwar der Bruder und die Schweſter immer geliebt und geſchaͤtzt werden, aber doch das Ver- langen nach dem Genuß ihrer Perſon einige Reize verliert. Es iſt daher auch kein beſſeres Mittel, dieſem Verlangen neue Reize zu geben, als die Tren- nung. Bruͤder und Schweſtern, die, ſo lange ſie beyſammen waren, nicht fuͤhlten, daß ſie einan- der bedurften, ſondern vielleicht dachten, ohne einander noch ruhiger leben zu koͤnnen, kennen, wenn ſie nun getrennt ſind, kein hoͤheres Gluͤck, als im Cirkel ihrer Geſchwiſter zu leben. Die Phantaſie haͤlt ihrem Herzen in der Abweſenheit nur das Bild des Bruders oder der Schweſter vor, und die wirkliche Empfindung kann es nicht durch disharmoniſche Zuͤge entſtellen; darum wird die Sehnſucht nach ſeinem Geſchwiſter in der Entfernung ſo groß, die Hofnung, ſie wie- derzuſehen, ſo reizvoll, und darum iſt die Freu- de der erſten Umarmung nach einer Trennung ſo ſuͤß. Ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/282
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/282>, abgerufen am 22.11.2024.