Geschwisterliche Liebe äußert sich mehr in dem Bestreben, zu dem Glück der Geschwister beyzutragen, als in dem anziehenden Wohlgefal- len an ihrer Person. Man hat wenigstens all- gemein bemerken wollen, daß dem Kusse und der Umarmung eines Bruders oder einer Schwester ein gewisses je ne sais quoi fehle, welches dem Kusse und der Umarmung eines Freundes oder einer Freundin die große Süßigkeit giebt. Mag diese Bemerkung auch hie und da durch einzelne Ausnahmen eingeschränkt werden; so viel ist we- nigstens im Ganzen gewiß, daß man freylich, wenn es auf Thätigkeit der Liebe ankömmt, den Bru- der und die Schwester Anderen vorsetzt; aber an ihrem Busen und in ihren Armen doch den Ge- nuß nicht hat, welchen die Liebe und Freundschaft gewährt.
Es ist auch gar nicht schwer, die Ursache dieser Erscheinung aufzufinden. Praesentia, sagt schon ein altes Sprichwort, minuit auctoritatem. Das Beysammenseyn mindert die Wichtigkeit. Dies findet auch hier seine Anwendung. Brü- der und Schwestern leben von Kindheit auf, ohne Zwang, mit einander. Einer sieht des Andern Schwächen, Mängel, Unvollkommenheiten und Fehler. Tausend kleine Vorfälle, deren Wir- kung aufs Herz einzeln kaum bemerkt wird, brin- gen endlich eine solche Stimmung desselben hervor,
daß
Nn 3
Geſchwiſterliche Liebe aͤußert ſich mehr in dem Beſtreben, zu dem Gluͤck der Geſchwiſter beyzutragen, als in dem anziehenden Wohlgefal- len an ihrer Perſon. Man hat wenigſtens all- gemein bemerken wollen, daß dem Kuſſe und der Umarmung eines Bruders oder einer Schweſter ein gewiſſes je ne ſais quoi fehle, welches dem Kuſſe und der Umarmung eines Freundes oder einer Freundin die große Suͤßigkeit giebt. Mag dieſe Bemerkung auch hie und da durch einzelne Ausnahmen eingeſchraͤnkt werden; ſo viel iſt we- nigſtens im Ganzen gewiß, daß man freylich, wenn es auf Thaͤtigkeit der Liebe ankoͤmmt, den Bru- der und die Schweſter Anderen vorſetzt; aber an ihrem Buſen und in ihren Armen doch den Ge- nuß nicht hat, welchen die Liebe und Freundſchaft gewaͤhrt.
Es iſt auch gar nicht ſchwer, die Urſache dieſer Erſcheinung aufzufinden. Praeſentia, ſagt ſchon ein altes Sprichwort, minuit auctoritatem. Das Beyſammenſeyn mindert die Wichtigkeit. Dies findet auch hier ſeine Anwendung. Bruͤ- der und Schweſtern leben von Kindheit auf, ohne Zwang, mit einander. Einer ſieht des Andern Schwaͤchen, Maͤngel, Unvollkommenheiten und Fehler. Tauſend kleine Vorfaͤlle, deren Wir- kung aufs Herz einzeln kaum bemerkt wird, brin- gen endlich eine ſolche Stimmung deſſelben hervor,
daß
Nn 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0281"n="565"/><lb/><p><hirendition="#b">Geſchwiſterliche</hi> Liebe aͤußert ſich mehr in<lb/>
dem Beſtreben, zu dem Gluͤck der Geſchwiſter<lb/>
beyzutragen, als in dem anziehenden Wohlgefal-<lb/>
len an ihrer Perſon. Man hat wenigſtens all-<lb/>
gemein bemerken wollen, daß dem Kuſſe und der<lb/>
Umarmung eines Bruders oder einer Schweſter<lb/>
ein gewiſſes <hirendition="#aq">je ne ſais quoi</hi> fehle, welches dem<lb/>
Kuſſe und der Umarmung eines Freundes oder<lb/>
einer Freundin die große Suͤßigkeit giebt. Mag<lb/>
dieſe Bemerkung auch hie und da durch einzelne<lb/>
Ausnahmen eingeſchraͤnkt werden; ſo viel iſt we-<lb/>
nigſtens im Ganzen gewiß, daß man freylich, wenn<lb/>
es auf <hirendition="#b">Thaͤtigkeit</hi> der Liebe ankoͤmmt, den Bru-<lb/>
der und die Schweſter Anderen vorſetzt; aber an<lb/>
ihrem Buſen und in ihren Armen doch den <hirendition="#b">Ge-<lb/>
nuß</hi> nicht hat, welchen die Liebe und Freundſchaft<lb/>
gewaͤhrt.</p><lb/><p>Es iſt auch gar nicht ſchwer, die Urſache<lb/>
dieſer Erſcheinung aufzufinden. <hirendition="#aq">Praeſentia</hi>, ſagt<lb/>ſchon ein altes Sprichwort, <hirendition="#aq">minuit auctoritatem</hi>.<lb/>
Das Beyſammenſeyn mindert die Wichtigkeit.<lb/>
Dies findet auch hier ſeine Anwendung. Bruͤ-<lb/>
der und Schweſtern leben von Kindheit auf, ohne<lb/>
Zwang, mit einander. Einer ſieht des Andern<lb/>
Schwaͤchen, Maͤngel, Unvollkommenheiten und<lb/>
Fehler. Tauſend kleine Vorfaͤlle, deren Wir-<lb/>
kung aufs Herz <hirendition="#b">einzeln</hi> kaum bemerkt wird, brin-<lb/>
gen endlich eine ſolche Stimmung deſſelben hervor,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Nn 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">daß</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[565/0281]
Geſchwiſterliche Liebe aͤußert ſich mehr in
dem Beſtreben, zu dem Gluͤck der Geſchwiſter
beyzutragen, als in dem anziehenden Wohlgefal-
len an ihrer Perſon. Man hat wenigſtens all-
gemein bemerken wollen, daß dem Kuſſe und der
Umarmung eines Bruders oder einer Schweſter
ein gewiſſes je ne ſais quoi fehle, welches dem
Kuſſe und der Umarmung eines Freundes oder
einer Freundin die große Suͤßigkeit giebt. Mag
dieſe Bemerkung auch hie und da durch einzelne
Ausnahmen eingeſchraͤnkt werden; ſo viel iſt we-
nigſtens im Ganzen gewiß, daß man freylich, wenn
es auf Thaͤtigkeit der Liebe ankoͤmmt, den Bru-
der und die Schweſter Anderen vorſetzt; aber an
ihrem Buſen und in ihren Armen doch den Ge-
nuß nicht hat, welchen die Liebe und Freundſchaft
gewaͤhrt.
Es iſt auch gar nicht ſchwer, die Urſache
dieſer Erſcheinung aufzufinden. Praeſentia, ſagt
ſchon ein altes Sprichwort, minuit auctoritatem.
Das Beyſammenſeyn mindert die Wichtigkeit.
Dies findet auch hier ſeine Anwendung. Bruͤ-
der und Schweſtern leben von Kindheit auf, ohne
Zwang, mit einander. Einer ſieht des Andern
Schwaͤchen, Maͤngel, Unvollkommenheiten und
Fehler. Tauſend kleine Vorfaͤlle, deren Wir-
kung aufs Herz einzeln kaum bemerkt wird, brin-
gen endlich eine ſolche Stimmung deſſelben hervor,
daß
Nn 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/281>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.