Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.ihn näher an mich, und macht mich geneigter, So *) Herr Professor Plattner behauptet in seinen philo-
sophischen Aphorismen, 2. Theil. §. 226. daß die Sympathie um so stärker wirke; je geringer in einer Seele die Selbsterfahrung des Leidens sey; weil alsdann die Vorstellungen und mitleiden- den Gefühle von dem Zustande des Leidenden ins Unendliche gingen. -- Allein ich glaube, meine Behauptung durch die Erfahrung und die Gesetze der menschlichen Natur bestätigt zu sehen, und sie selbst durch Herrn Plattners angeführten Grund be- weisen zu können. Denn, daß, wo keine Selbst- erfahrung ist, die Vorstellungen von dem Leiden Andrer ins Unendliche gehen, das heißt, daß sie unbestimmt sind, ist nicht zu leugnen; nur folgt nicht hieraus, daß ihre Wirkung aufs Herz stärker sey. Denn die Wirkung der Vorstellungen aufs Herz steht offenbar in umgekehrten Verhältniß mit der Unbestimmtheit derselben, wie dies z. B. bey den Begierden und Neigungen klar ist. Hat man Etwas, z. B. die Lust der sinnlichen Liebe, das Spiel u. s. w. noch nicht selbst erfahren, so kann man sich leichter von denselben zurückhalten; hat man das damit zusammenhängende Vergnügen schon ge- ihn naͤher an mich, und macht mich geneigter, So *) Herr Profeſſor Plattner behauptet in ſeinen philo-
ſophiſchen Aphoriſmen, 2. Theil. §. 226. daß die Sympathie um ſo ſtaͤrker wirke; je geringer in einer Seele die Selbſterfahrung des Leidens ſey; weil alsdann die Vorſtellungen und mitleiden- den Gefuͤhle von dem Zuſtande des Leidenden ins Unendliche gingen. — Allein ich glaube, meine Behauptung durch die Erfahrung und die Geſetze der menſchlichen Natur beſtaͤtigt zu ſehen, und ſie ſelbſt durch Herrn Plattners angefuͤhrten Grund be- weiſen zu koͤnnen. Denn, daß, wo keine Selbſt- erfahrung iſt, die Vorſtellungen von dem Leiden Andrer ins Unendliche gehen, das heißt, daß ſie unbeſtimmt ſind, iſt nicht zu leugnen; nur folgt nicht hieraus, daß ihre Wirkung aufs Herz ſtaͤrker ſey. Denn die Wirkung der Vorſtellungen aufs Herz ſteht offenbar in umgekehrten Verhaͤltniß mit der Unbeſtimmtheit derſelben, wie dies z. B. bey den Begierden und Neigungen klar iſt. Hat man Etwas, z. B. die Luſt der ſinnlichen Liebe, das Spiel u. ſ. w. noch nicht ſelbſt erfahren, ſo kann man ſich leichter von denſelben zuruͤckhalten; hat man das damit zuſammenhaͤngende Vergnuͤgen ſchon ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0238" n="522"/> ihn naͤher an mich, und macht mich geneigter,<lb/> ſein Gefuͤhl in das meinige aufzunehmen. Der<lb/> Phantaſie iſt es leichter, ſich das Leiden vorzu-<lb/> ſtellen; das Herz iſt fuͤr die Empfindung deſſel-<lb/> ben offner, weil ihr der Weg ſchon durch die<lb/> Selbſterfahrung gebahnt iſt<note xml:id="seg2pn_20_1" next="#seg2pn_20_2" place="foot" n="*)">Herr Profeſſor Plattner behauptet in ſeinen philo-<lb/> ſophiſchen Aphoriſmen, 2. Theil. §. 226. daß <hi rendition="#fr">die<lb/> Sympathie um ſo ſtaͤrker wirke; je geringer<lb/> in einer Seele die Selbſterfahrung des Leidens<lb/> ſey;</hi> weil alsdann die Vorſtellungen und mitleiden-<lb/> den Gefuͤhle von dem Zuſtande des Leidenden ins<lb/> Unendliche gingen. — Allein ich glaube, meine<lb/> Behauptung durch die Erfahrung und die Geſetze<lb/> der menſchlichen Natur beſtaͤtigt zu ſehen, und ſie<lb/> ſelbſt durch Herrn Plattners angefuͤhrten Grund be-<lb/> weiſen zu koͤnnen. Denn, daß, wo keine Selbſt-<lb/> erfahrung iſt, die Vorſtellungen von dem Leiden<lb/> Andrer ins Unendliche gehen, das heißt, daß ſie<lb/> unbeſtimmt ſind, iſt nicht zu leugnen; nur folgt<lb/> nicht hieraus, daß ihre Wirkung aufs Herz ſtaͤrker<lb/> ſey. Denn die Wirkung der Vorſtellungen aufs<lb/> Herz ſteht offenbar in umgekehrten Verhaͤltniß mit<lb/> der Unbeſtimmtheit derſelben, wie dies z. B.<lb/> bey den Begierden und Neigungen klar iſt. Hat<lb/> man Etwas, z. B. die Luſt der ſinnlichen Liebe,<lb/> das Spiel u. ſ. w. noch nicht ſelbſt erfahren, ſo kann<lb/> man ſich leichter von denſelben zuruͤckhalten; hat<lb/> man das damit zuſammenhaͤngende Vergnuͤgen ſchon<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ge-</fw></note>.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [522/0238]
ihn naͤher an mich, und macht mich geneigter,
ſein Gefuͤhl in das meinige aufzunehmen. Der
Phantaſie iſt es leichter, ſich das Leiden vorzu-
ſtellen; das Herz iſt fuͤr die Empfindung deſſel-
ben offner, weil ihr der Weg ſchon durch die
Selbſterfahrung gebahnt iſt *).
So
*) Herr Profeſſor Plattner behauptet in ſeinen philo-
ſophiſchen Aphoriſmen, 2. Theil. §. 226. daß die
Sympathie um ſo ſtaͤrker wirke; je geringer
in einer Seele die Selbſterfahrung des Leidens
ſey; weil alsdann die Vorſtellungen und mitleiden-
den Gefuͤhle von dem Zuſtande des Leidenden ins
Unendliche gingen. — Allein ich glaube, meine
Behauptung durch die Erfahrung und die Geſetze
der menſchlichen Natur beſtaͤtigt zu ſehen, und ſie
ſelbſt durch Herrn Plattners angefuͤhrten Grund be-
weiſen zu koͤnnen. Denn, daß, wo keine Selbſt-
erfahrung iſt, die Vorſtellungen von dem Leiden
Andrer ins Unendliche gehen, das heißt, daß ſie
unbeſtimmt ſind, iſt nicht zu leugnen; nur folgt
nicht hieraus, daß ihre Wirkung aufs Herz ſtaͤrker
ſey. Denn die Wirkung der Vorſtellungen aufs
Herz ſteht offenbar in umgekehrten Verhaͤltniß mit
der Unbeſtimmtheit derſelben, wie dies z. B.
bey den Begierden und Neigungen klar iſt. Hat
man Etwas, z. B. die Luſt der ſinnlichen Liebe,
das Spiel u. ſ. w. noch nicht ſelbſt erfahren, ſo kann
man ſich leichter von denſelben zuruͤckhalten; hat
man das damit zuſammenhaͤngende Vergnuͤgen ſchon
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