Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>
Tief, zu tief, zu jammervoll ist dein Elend!
Zerrißne,
Wundenvolle, du bist ohn' ihn! -- --

So erbarmungslos ist Mancher gegen sich!
So macht Mancher das, was nichts als seine Vor-
stellung ist, zur Realität, getäuscht durch die
Geneigtheit seiner Jmagination, ihre Vorstellungen
nach der gegenwärtigen Stimmung des Herzens
zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:

Fühle nichts, als das Wirkliche im Ue-
bel, und verstatte der Phantasie nicht, dich
durch eingebildetes Unglück zu ängstigen.

Wie etwas auf unser Herz wirken soll, ob
angenehm oder unangenehm, das hängt von der
Art ab, wie wir es uns vorstellen. Eine und
dieselbe Sache, wie verschieden wird sie von ver-
schiednen Menschen empfunden! Der vernünftig
und menschlich Denkende sieht in den äußern Gü-
tern Hülfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens;
der strenge und einseitige Schwärmer Dinge,
welche die Tugend entehren; der Träge sieht die
Arbeit als Mühseligkeit, der Fleißige als ein un-
terhaltendes Geschäft an.

Daß man doch diese Wahrheit beherzige!
Daß man doch seiner Einbildungskraft einschärfe,
ihre Vorstellungen nach der Wahrheit und nicht ein-
seitig und falsch zu bilden! Daß man sie doch ge-

wöhne,
S 2
Tief, zu tief, zu jammervoll iſt dein Elend!
Zerrißne,
Wundenvolle, du biſt ohn' ihn! — —

So erbarmungslos iſt Mancher gegen ſich!
So macht Mancher das, was nichts als ſeine Vor-
ſtellung iſt, zur Realitaͤt, getaͤuſcht durch die
Geneigtheit ſeiner Jmagination, ihre Vorſtellungen
nach der gegenwaͤrtigen Stimmung des Herzens
zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:

Fuͤhle nichts, als das Wirkliche im Ue-
bel, und verſtatte der Phantaſie nicht, dich
durch eingebildetes Ungluͤck zu aͤngſtigen.

Wie etwas auf unſer Herz wirken ſoll, ob
angenehm oder unangenehm, das haͤngt von der
Art ab, wie wir es uns vorſtellen. Eine und
dieſelbe Sache, wie verſchieden wird ſie von ver-
ſchiednen Menſchen empfunden! Der vernuͤnftig
und menſchlich Denkende ſieht in den aͤußern Guͤ-
tern Huͤlfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens;
der ſtrenge und einſeitige Schwaͤrmer Dinge,
welche die Tugend entehren; der Traͤge ſieht die
Arbeit als Muͤhſeligkeit, der Fleißige als ein un-
terhaltendes Geſchaͤft an.

Daß man doch dieſe Wahrheit beherzige!
Daß man doch ſeiner Einbildungskraft einſchaͤrfe,
ihre Vorſtellungen nach der Wahrheit und nicht ein-
ſeitig und falſch zu bilden! Daß man ſie doch ge-

woͤhne,
S 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <cit>
              <quote><pb facs="#f0299" n="275"/>
Tief, zu tief, zu jammervoll i&#x017F;t dein Elend!<lb/><hi rendition="#et">Zerrißne,</hi><lb/>
Wundenvolle, du bi&#x017F;t ohn' ihn! &#x2014; &#x2014;</quote>
            </cit><lb/>
            <p>So erbarmungslos i&#x017F;t Mancher gegen &#x017F;ich!<lb/>
So macht Mancher das, was nichts als &#x017F;eine Vor-<lb/>
&#x017F;tellung i&#x017F;t, zur Realita&#x0364;t, geta&#x0364;u&#x017F;cht durch die<lb/>
Geneigtheit &#x017F;einer Jmagination, ihre Vor&#x017F;tellungen<lb/>
nach der gegenwa&#x0364;rtigen Stimmung des Herzens<lb/>
zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:</p><lb/>
            <p> <hi rendition="#b">Fu&#x0364;hle nichts, als das Wirkliche im Ue-<lb/>
bel, und ver&#x017F;tatte der Phanta&#x017F;ie nicht, dich<lb/>
durch eingebildetes Unglu&#x0364;ck zu a&#x0364;ng&#x017F;tigen.</hi> </p><lb/>
            <p>Wie etwas auf un&#x017F;er Herz wirken &#x017F;oll, ob<lb/>
angenehm oder unangenehm, das ha&#x0364;ngt von der<lb/>
Art ab, wie wir es uns vor&#x017F;tellen. Eine und<lb/>
die&#x017F;elbe Sache, wie ver&#x017F;chieden wird &#x017F;ie von ver-<lb/>
&#x017F;chiednen Men&#x017F;chen empfunden! Der vernu&#x0364;nftig<lb/>
und men&#x017F;chlich Denkende &#x017F;ieht in den a&#x0364;ußern Gu&#x0364;-<lb/>
tern Hu&#x0364;lfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens;<lb/>
der &#x017F;trenge und ein&#x017F;eitige Schwa&#x0364;rmer Dinge,<lb/>
welche die Tugend entehren; der Tra&#x0364;ge &#x017F;ieht die<lb/>
Arbeit als Mu&#x0364;h&#x017F;eligkeit, der Fleißige als ein un-<lb/>
terhaltendes Ge&#x017F;cha&#x0364;ft an.</p><lb/>
            <p>Daß man doch die&#x017F;e Wahrheit beherzige!<lb/>
Daß man doch &#x017F;einer Einbildungskraft ein&#x017F;cha&#x0364;rfe,<lb/>
ihre Vor&#x017F;tellungen nach der Wahrheit und nicht ein-<lb/>
&#x017F;eitig und fal&#x017F;ch zu bilden! Daß man &#x017F;ie doch ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S 2</fw><fw place="bottom" type="catch">wo&#x0364;hne,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[275/0299] Tief, zu tief, zu jammervoll iſt dein Elend! Zerrißne, Wundenvolle, du biſt ohn' ihn! — — So erbarmungslos iſt Mancher gegen ſich! So macht Mancher das, was nichts als ſeine Vor- ſtellung iſt, zur Realitaͤt, getaͤuſcht durch die Geneigtheit ſeiner Jmagination, ihre Vorſtellungen nach der gegenwaͤrtigen Stimmung des Herzens zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel: Fuͤhle nichts, als das Wirkliche im Ue- bel, und verſtatte der Phantaſie nicht, dich durch eingebildetes Ungluͤck zu aͤngſtigen. Wie etwas auf unſer Herz wirken ſoll, ob angenehm oder unangenehm, das haͤngt von der Art ab, wie wir es uns vorſtellen. Eine und dieſelbe Sache, wie verſchieden wird ſie von ver- ſchiednen Menſchen empfunden! Der vernuͤnftig und menſchlich Denkende ſieht in den aͤußern Guͤ- tern Huͤlfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens; der ſtrenge und einſeitige Schwaͤrmer Dinge, welche die Tugend entehren; der Traͤge ſieht die Arbeit als Muͤhſeligkeit, der Fleißige als ein un- terhaltendes Geſchaͤft an. Daß man doch dieſe Wahrheit beherzige! Daß man doch ſeiner Einbildungskraft einſchaͤrfe, ihre Vorſtellungen nach der Wahrheit und nicht ein- ſeitig und falſch zu bilden! Daß man ſie doch ge- woͤhne, S 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/299
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/299>, abgerufen am 02.05.2024.