Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

sogar eine neue und bisher unbekannte Mortifika-
tion; indem sie sich, die Füße oben und den
Kopf unten, in den Rauchfang eines Schorn-
steins aufhing, unter welchem sie Feuer von Heu
oder nassem Stroh machen ließ, um die Pein
des dicken Dampfs sowohl, als der Flamme
recht zu genießen, ihr Fleisch kräftiger zu kreuzi-
gen, und dadurch dem Umgang der Engel im-
mer näher zu kommen
. -- Die heilige Bou-
rignon nannte zwar ihren Schülern Verläugnung
der Welt, Verachtung des Reichthums, Unter-
werfung des Willens, als die drey Brücken zur
Seligkeit; aber die Schwärmerey derselben be-
wies, daß die Lehrerin der Seligkeit selbst nicht
über diese Brücken gegangen war, und ihr hoch-
müthiger Eigensinn, Geiz, und zu große Werth-
schätzung der Welt, sie getrieben hatte, in dem
Nimbus einer Heiligen gekleidet für sie die Nah-
rung zu suchen, welche sie als gewöhnliches Weib
ihnen nicht hatte verschaffen können. -- Der
Abt Arsenius mußte große Furcht vor den Stra-
fen nach dem Tode haben, da er in seiner Celle
einen beständigen Gestank von verfaulten Palm-
blättern unterhielt; in der Hofnung durch diese
Selbstpeinigung dem Gestank der Hölle zu ent-
gehen.

Liebe und Stolz, als die heftigsten Leidenschaf-
ten der menschlichen Seele, sind am häufigsten

die

ſogar eine neue und bisher unbekannte Mortifika-
tion; indem ſie ſich, die Fuͤße oben und den
Kopf unten, in den Rauchfang eines Schorn-
ſteins aufhing, unter welchem ſie Feuer von Heu
oder naſſem Stroh machen ließ, um die Pein
des dicken Dampfs ſowohl, als der Flamme
recht zu genießen, ihr Fleiſch kraͤftiger zu kreuzi-
gen, und dadurch dem Umgang der Engel im-
mer naͤher zu kommen
. — Die heilige Bou-
rignon nannte zwar ihren Schuͤlern Verlaͤugnung
der Welt, Verachtung des Reichthums, Unter-
werfung des Willens, als die drey Bruͤcken zur
Seligkeit; aber die Schwaͤrmerey derſelben be-
wies, daß die Lehrerin der Seligkeit ſelbſt nicht
uͤber dieſe Bruͤcken gegangen war, und ihr hoch-
muͤthiger Eigenſinn, Geiz, und zu große Werth-
ſchaͤtzung der Welt, ſie getrieben hatte, in dem
Nimbus einer Heiligen gekleidet fuͤr ſie die Nah-
rung zu ſuchen, welche ſie als gewoͤhnliches Weib
ihnen nicht hatte verſchaffen koͤnnen. — Der
Abt Arſenius mußte große Furcht vor den Stra-
fen nach dem Tode haben, da er in ſeiner Celle
einen beſtaͤndigen Geſtank von verfaulten Palm-
blaͤttern unterhielt; in der Hofnung durch dieſe
Selbſtpeinigung dem Geſtank der Hoͤlle zu ent-
gehen.

Liebe und Stolz, als die heftigſten Leidenſchaf-
ten der menſchlichen Seele, ſind am haͤufigſten

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0262" n="238"/>
&#x017F;ogar eine neue und bisher unbekannte Mortifika-<lb/>
tion; indem &#x017F;ie &#x017F;ich, die Fu&#x0364;ße oben und den<lb/>
Kopf unten, in den Rauchfang eines Schorn-<lb/>
&#x017F;teins aufhing, unter welchem &#x017F;ie Feuer von Heu<lb/>
oder na&#x017F;&#x017F;em Stroh machen ließ, um die Pein<lb/>
des dicken Dampfs &#x017F;owohl, als der Flamme<lb/>
recht zu genießen, ihr Flei&#x017F;ch kra&#x0364;ftiger zu kreuzi-<lb/>
gen, und dadurch dem <hi rendition="#b">Umgang der Engel im-<lb/>
mer na&#x0364;her zu kommen</hi>. &#x2014; Die heilige Bou-<lb/>
rignon nannte zwar ihren Schu&#x0364;lern Verla&#x0364;ugnung<lb/>
der Welt, Verachtung des Reichthums, Unter-<lb/>
werfung des Willens, als die drey Bru&#x0364;cken zur<lb/>
Seligkeit; aber die Schwa&#x0364;rmerey der&#x017F;elben be-<lb/>
wies, daß die Lehrerin der Seligkeit &#x017F;elb&#x017F;t nicht<lb/>
u&#x0364;ber die&#x017F;e Bru&#x0364;cken gegangen war, und ihr hoch-<lb/>
mu&#x0364;thiger Eigen&#x017F;inn, Geiz, und zu große Werth-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;tzung der Welt, &#x017F;ie getrieben hatte, in dem<lb/>
Nimbus einer Heiligen gekleidet fu&#x0364;r &#x017F;ie die Nah-<lb/>
rung zu &#x017F;uchen, welche &#x017F;ie als gewo&#x0364;hnliches Weib<lb/>
ihnen nicht hatte ver&#x017F;chaffen ko&#x0364;nnen. &#x2014; Der<lb/>
Abt Ar&#x017F;enius mußte große Furcht vor den Stra-<lb/>
fen nach dem Tode haben, da er in &#x017F;einer Celle<lb/>
einen be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Ge&#x017F;tank von verfaulten Palm-<lb/>
bla&#x0364;ttern unterhielt; in der Hofnung durch die&#x017F;e<lb/>
Selb&#x017F;tpeinigung dem Ge&#x017F;tank der Ho&#x0364;lle zu ent-<lb/>
gehen.</p><lb/>
          <p>Liebe und Stolz, als die heftig&#x017F;ten Leiden&#x017F;chaf-<lb/>
ten der men&#x017F;chlichen Seele, &#x017F;ind am ha&#x0364;ufig&#x017F;ten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0262] ſogar eine neue und bisher unbekannte Mortifika- tion; indem ſie ſich, die Fuͤße oben und den Kopf unten, in den Rauchfang eines Schorn- ſteins aufhing, unter welchem ſie Feuer von Heu oder naſſem Stroh machen ließ, um die Pein des dicken Dampfs ſowohl, als der Flamme recht zu genießen, ihr Fleiſch kraͤftiger zu kreuzi- gen, und dadurch dem Umgang der Engel im- mer naͤher zu kommen. — Die heilige Bou- rignon nannte zwar ihren Schuͤlern Verlaͤugnung der Welt, Verachtung des Reichthums, Unter- werfung des Willens, als die drey Bruͤcken zur Seligkeit; aber die Schwaͤrmerey derſelben be- wies, daß die Lehrerin der Seligkeit ſelbſt nicht uͤber dieſe Bruͤcken gegangen war, und ihr hoch- muͤthiger Eigenſinn, Geiz, und zu große Werth- ſchaͤtzung der Welt, ſie getrieben hatte, in dem Nimbus einer Heiligen gekleidet fuͤr ſie die Nah- rung zu ſuchen, welche ſie als gewoͤhnliches Weib ihnen nicht hatte verſchaffen koͤnnen. — Der Abt Arſenius mußte große Furcht vor den Stra- fen nach dem Tode haben, da er in ſeiner Celle einen beſtaͤndigen Geſtank von verfaulten Palm- blaͤttern unterhielt; in der Hofnung durch dieſe Selbſtpeinigung dem Geſtank der Hoͤlle zu ent- gehen. Liebe und Stolz, als die heftigſten Leidenſchaf- ten der menſchlichen Seele, ſind am haͤufigſten die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/262
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/262>, abgerufen am 22.11.2024.