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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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sie bey den Schwärmern nehmen sehen. Wenn
die Schwärmer und Schwärmerinnen des Orients
und der erstern Jahrhunderte nach Christi Geburt
ihr Fleisch kreuzigten und tödteten, was trieb sie
anders dazu, als Hochmuth, Liebe, Furcht vor
den Strafen ihrer vorigen Lasterhaftigkeit, oder
ähnliche Affekten und Leidenschaften?*) --
Passidea von Siena schlief, wie Herr Zimmer-
mann erzählt**), gewöhnlich auf einem Brett,
oder auf der Erde: zuweilen ruhte sie sogar auf
Kirschkernen oder Besenreisern. Sie ging in der
Regel barfuß, oder wenn sie Schuhe trug, so
legte sie Erbsen oder auch heißen Schrot hinein.
Bey dem Gebete kniete sie auf Disteln und Dor-
nen, oder auch am häufigsten auf einem großen
Reibeisen, oder auf eisernen Platten voll Sta-
cheln und Spitzen, manchmal auch wohl auf
glühenden Nägeln oder Eisenblech. Sie erfand

sogar
*) Es gilt von allen Schwärmern, was der Baron
von d'Escherney in seinen Lacunes de la Philoso-
phie
von den Charlatans sagt: ils preferent une
existence merveilleuse mais passagere, a l'exi-
stence plus longue du merite, qui se produit
sans l'appareil des prodiges; ils se plaisent a
reunir sur quelques points de leur duree, les
jouissances de gloire, & quelquefois d'argent,
d'une vie entiere.
**) Ueber die Einsamkeit. 2. Th. S. 98.


ſie bey den Schwaͤrmern nehmen ſehen. Wenn
die Schwaͤrmer und Schwaͤrmerinnen des Orients
und der erſtern Jahrhunderte nach Chriſti Geburt
ihr Fleiſch kreuzigten und toͤdteten, was trieb ſie
anders dazu, als Hochmuth, Liebe, Furcht vor
den Strafen ihrer vorigen Laſterhaftigkeit, oder
aͤhnliche Affekten und Leidenſchaften?*)
Paſſidea von Siena ſchlief, wie Herr Zimmer-
mann erzaͤhlt**), gewoͤhnlich auf einem Brett,
oder auf der Erde: zuweilen ruhte ſie ſogar auf
Kirſchkernen oder Beſenreiſern. Sie ging in der
Regel barfuß, oder wenn ſie Schuhe trug, ſo
legte ſie Erbſen oder auch heißen Schrot hinein.
Bey dem Gebete kniete ſie auf Diſteln und Dor-
nen, oder auch am haͤufigſten auf einem großen
Reibeiſen, oder auf eiſernen Platten voll Sta-
cheln und Spitzen, manchmal auch wohl auf
gluͤhenden Naͤgeln oder Eiſenblech. Sie erfand

ſogar
*) Es gilt von allen Schwaͤrmern, was der Baron
von d'Eſcherney in ſeinen Lacunes de la Philoſo-
phie
von den Charlatans ſagt: ils préférent une
exiſtence merveilleuſe mais pasſagere, a l'exi-
ſtence plus longue du merite, qui ſe produit
ſans l'appareil des prodiges; ils ſe plaiſent à
reunir ſur quelques points de leur durée, les
jouiſſances de gloire, & quelquefois d'argent,
d'une vie entière.
**) Ueber die Einſamkeit. 2. Th. S. 98.
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[237/0261] ſie bey den Schwaͤrmern nehmen ſehen. Wenn die Schwaͤrmer und Schwaͤrmerinnen des Orients und der erſtern Jahrhunderte nach Chriſti Geburt ihr Fleiſch kreuzigten und toͤdteten, was trieb ſie anders dazu, als Hochmuth, Liebe, Furcht vor den Strafen ihrer vorigen Laſterhaftigkeit, oder aͤhnliche Affekten und Leidenſchaften? *) — Paſſidea von Siena ſchlief, wie Herr Zimmer- mann erzaͤhlt **), gewoͤhnlich auf einem Brett, oder auf der Erde: zuweilen ruhte ſie ſogar auf Kirſchkernen oder Beſenreiſern. Sie ging in der Regel barfuß, oder wenn ſie Schuhe trug, ſo legte ſie Erbſen oder auch heißen Schrot hinein. Bey dem Gebete kniete ſie auf Diſteln und Dor- nen, oder auch am haͤufigſten auf einem großen Reibeiſen, oder auf eiſernen Platten voll Sta- cheln und Spitzen, manchmal auch wohl auf gluͤhenden Naͤgeln oder Eiſenblech. Sie erfand ſogar *) Es gilt von allen Schwaͤrmern, was der Baron von d'Eſcherney in ſeinen Lacunes de la Philoſo- phie von den Charlatans ſagt: ils préférent une exiſtence merveilleuſe mais pasſagere, a l'exi- ſtence plus longue du merite, qui ſe produit ſans l'appareil des prodiges; ils ſe plaiſent à reunir ſur quelques points de leur durée, les jouiſſances de gloire, & quelquefois d'argent, d'une vie entière. **) Ueber die Einſamkeit. 2. Th. S. 98.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/261>, abgerufen am 01.05.2024.