Giftvoller großer Schlangen Heere ziehn; Da steht auf beyden Seiten ihres Zugs Erstorbnes Gras, da steht, so weit umher Als ihre Bäuche kriechen, alles todt. Von Memel bis Küstrin stand Friedrichs Land So da, verwüstet, öde, traurig, todt.
Weil also die Einbildungskraft, wie aus den angeführten Beyspielen klar seyn kann, das Abwe- sende und Vergangene so vergegenwärtigen kann, daß man vergißt, daß es abwesend ist, und eine gegenwärtige Sache zu sehen glaubt; bey dem hin- gegen, was das Gedächtniß reproducirt, das klare Bewußtseyn, daß es etwas Vergangnes sey, statt findet; so kann man jene von diesem durch den größern Grad von Lebhaftigkeit, mit welcher sie vorstellt, unterscheiden.
Das zweyte characteristische Unterscheidungs- merkmal dieser beyden Seelenvermögen glaub' ich in der freyern Thätigkeit der Phantasie und der gebundenern des Gedächtnisses zu finden.
Dieses liefert nur solche Vorstellungen, die schon einmal oder öfter in der Seele waren, und liefert dieselben, so, wie sie damals waren. Jene aber ist nicht blos hierauf eingeschränkt; sie nimmt zwar, wie oben bemerkt ist, die Farben zu ihren Bildern aus wirklich da gewesenen Empfindungen; aber mischt dieselben oft so untereinander, daß das, was sie hervorbringt, etwas ganz Neues, niemals
Wahr-
Giftvoller großer Schlangen Heere ziehn; Da ſteht auf beyden Seiten ihres Zugs Erſtorbnes Gras, da ſteht, ſo weit umher Als ihre Baͤuche kriechen, alles todt. Von Memel bis Kuͤſtrin ſtand Friedrichs Land So da, verwuͤſtet, oͤde, traurig, todt.
Weil alſo die Einbildungskraft, wie aus den angefuͤhrten Beyſpielen klar ſeyn kann, das Abwe- ſende und Vergangene ſo vergegenwaͤrtigen kann, daß man vergißt, daß es abweſend iſt, und eine gegenwaͤrtige Sache zu ſehen glaubt; bey dem hin- gegen, was das Gedaͤchtniß reproducirt, das klare Bewußtſeyn, daß es etwas Vergangnes ſey, ſtatt findet; ſo kann man jene von dieſem durch den groͤßern Grad von Lebhaftigkeit, mit welcher ſie vorſtellt, unterſcheiden.
Das zweyte characteriſtiſche Unterſcheidungs- merkmal dieſer beyden Seelenvermoͤgen glaub' ich in der freyern Thaͤtigkeit der Phantaſie und der gebundenern des Gedaͤchtniſſes zu finden.
Dieſes liefert nur ſolche Vorſtellungen, die ſchon einmal oder oͤfter in der Seele waren, und liefert dieſelben, ſo, wie ſie damals waren. Jene aber iſt nicht blos hierauf eingeſchraͤnkt; ſie nimmt zwar, wie oben bemerkt iſt, die Farben zu ihren Bildern aus wirklich da geweſenen Empfindungen; aber miſcht dieſelben oft ſo untereinander, daß das, was ſie hervorbringt, etwas ganz Neues, niemals
Wahr-
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Giftvoller großer Schlangen Heere ziehn;
Da ſteht auf beyden Seiten ihres Zugs
Erſtorbnes Gras, da ſteht, ſo weit umher
Als ihre Baͤuche kriechen, alles todt.
Von Memel bis Kuͤſtrin ſtand Friedrichs Land
So da, verwuͤſtet, oͤde, traurig, todt.
Weil alſo die Einbildungskraft, wie aus den
angefuͤhrten Beyſpielen klar ſeyn kann, das Abwe-
ſende und Vergangene ſo vergegenwaͤrtigen kann,
daß man vergißt, daß es abweſend iſt, und eine
gegenwaͤrtige Sache zu ſehen glaubt; bey dem hin-
gegen, was das Gedaͤchtniß reproducirt, das
klare Bewußtſeyn, daß es etwas Vergangnes ſey,
ſtatt findet; ſo kann man jene von dieſem durch
den groͤßern Grad von Lebhaftigkeit, mit welcher
ſie vorſtellt, unterſcheiden.
Das zweyte characteriſtiſche Unterſcheidungs-
merkmal dieſer beyden Seelenvermoͤgen glaub' ich
in der freyern Thaͤtigkeit der Phantaſie und der
gebundenern des Gedaͤchtniſſes zu finden.
Dieſes liefert nur ſolche Vorſtellungen, die
ſchon einmal oder oͤfter in der Seele waren, und
liefert dieſelben, ſo, wie ſie damals waren. Jene
aber iſt nicht blos hierauf eingeſchraͤnkt; ſie nimmt
zwar, wie oben bemerkt iſt, die Farben zu ihren
Bildern aus wirklich da geweſenen Empfindungen;
aber miſcht dieſelben oft ſo untereinander, daß das,
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/146>, abgerufen am 16.02.2025.
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