Menschen versehen zu seyn, ist es dem Rich- ter unmöglich, die Untersuchung mit derje- nigen Ruhe zu führen, die durchaus erforder- lich ist, wenn man zu einer reinen Einsicht der Wahrheit gelangen oder leiten will. Dem Untersucher, der die menschliche Natur nicht kennt, geht es, wie dem Lehrer, welchem es an Sachkenntniss oder Methode fehlt. So wie dieser das peinliche Gefühl seiner eignen Unwissenheit und Ungeschicklichkeit in Un- willen gegen den Schüler ausbrechen lässt, der ihm nicht durch fliessende Antworten aus der Noth helfen kann; so wird auch der Richter, der ohne festen Plan und ohne Auf- merksamkeit auf die Winke, die ihm der In- quisit giebt, frägt, und daher keine Antwort nach seinem Sinne erhalten kann, statt seine Frage zu verbessern, bitter und böse, und schreibt das, was er seinem Mangel an Klug- heit anrechnen solle, dem bösen Willen des Inquisiten zu: welches denn nichts anders zur
Fol-
Menſchen verſehen zu ſeyn, iſt es dem Rich- ter unmöglich, die Unterſuchung mit derje- nigen Ruhe zu führen, die durchaus erforder- lich iſt, wenn man zu einer reinen Einſicht der Wahrheit gelangen oder leiten will. Dem Unterſucher, der die menſchliche Natur nicht kennt, geht es, wie dem Lehrer, welchem es an Sachkenntniſs oder Methode fehlt. So wie dieſer das peinliche Gefühl ſeiner eignen Unwiſſenheit und Ungeſchicklichkeit in Un- willen gegen den Schüler ausbrechen läſst, der ihm nicht durch flieſsende Antworten aus der Noth helfen kann; ſo wird auch der Richter, der ohne feſten Plan und ohne Auf- merkſamkeit auf die Winke, die ihm der In- quiſit giebt, frägt, und daher keine Antwort nach ſeinem Sinne erhalten kann, ſtatt ſeine Frage zu verbeſſern, bitter und böſe, und ſchreibt das, was er ſeinem Mangel an Klug- heit anrechnen ſolle, dem böſen Willen des Inquiſiten zu: welches denn nichts anders zur
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Menſchen verſehen zu ſeyn, iſt es dem Rich-
ter unmöglich, die Unterſuchung mit derje-
nigen Ruhe zu führen, die durchaus erforder-
lich iſt, wenn man zu einer reinen Einſicht
der Wahrheit gelangen oder leiten will. Dem
Unterſucher, der die menſchliche Natur nicht
kennt, geht es, wie dem Lehrer, welchem
es an Sachkenntniſs oder Methode fehlt. So
wie dieſer das peinliche Gefühl ſeiner eignen
Unwiſſenheit und Ungeſchicklichkeit in Un-
willen gegen den Schüler ausbrechen läſst,
der ihm nicht durch flieſsende Antworten aus
der Noth helfen kann; ſo wird auch der
Richter, der ohne feſten Plan und ohne Auf-
merkſamkeit auf die Winke, die ihm der In-
quiſit giebt, frägt, und daher keine Antwort
nach ſeinem Sinne erhalten kann, ſtatt ſeine
Frage zu verbeſſern, bitter und böſe, und
ſchreibt das, was er ſeinem Mangel an Klug-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Ideen zu einer Kriminalpsychologie. Halle, 1792, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_crimipsyche_1792/80>, abgerufen am 16.02.2025.
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