Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
auf dessen Vernichtung es in dieser Untersuchung vorzugs- weise ankommt.
Allerdings liegt es sehr nahe, Zwang und Freyheit als einander ausschließende Zustände anzusehen, mithin die Freyheit schlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan- den ist. Dennoch müssen wir bey genauerer Betrachtung diese Ansicht gänzlich aufgeben. Mit den speculativen Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts- gebiet Nichts zu schaffen; uns berührt blos die Freyheit in der Erscheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh- reren denkbaren Entschlüssen eine Wahl zu treffen. Daß aber diese Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden ist, kann nicht be- zweifelt werden. Er hat die Wahl sogar zwischen Drey möglichen Entschlüssen: die Handlung vorzunehmen, wozu ihn der Drohende bestimmen will; das gedrohte Übel durch Widerstand abzuwehren; oder endlich dieses Übel zu er- dulden. Hat er nun den ersten dieser drey Wege erwählt, so ist die Freyheit der Wahl, also seines Wollens, wahr- haft vorhanden, und wir müssen das wirkliche, nicht blos scheinbare, Daseyn einer Willenserklärung, z. B. eines Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen, unbedenklich anerkennen.
Diese Ansicht ist denn auch die des Römischen Rechts in so klaren, entscheidenden Stellen (c), daß selbst die
(c)L. 21 § 5 quod metus (4. 2.). "Si metu coactus adii he- reditatem, puto me heredem effici, quia, quamvis si liberum
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs- weiſe ankommt.
Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan- den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts- gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh- reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be- zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er- dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt, ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr- haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen, unbedenklich anerkennen.
Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die
(c)L. 21 § 5 quod metus (4. 2.). „Si metu coactus adii he- reditatem, puto me heredem effici, quia, quamvis si liberum
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs-
weiſe ankommt.
Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit
als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die
Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-
den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung
dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen
Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-
gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit
in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-
reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß
aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey
dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be-
zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey
möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu
ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch
Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er-
dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt,
ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr-
haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos
ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines
Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,
unbedenklich anerkennen.
Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts
in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die
(c) L. 21 § 5 quod metus (4.
2.). „Si metu coactus adii he-
reditatem, puto me heredem
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/114>, abgerufen am 25.11.2024.
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