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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, so
wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens,
unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben so
treten die Gemeinden, die doch wahre Bestandtheile des
Staates sind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein-
zelnen heran. Dennoch bleibt zwischen beiden Gebieten ein
fest bestimmter Gegensatz darin, daß in dem öffentlichen
Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord-
net erscheint, anstatt daß in dem Privatrecht der einzelne
Mensch für sich Zweck ist, und jedes Rechtsverhältniß sich
nur als Mittel auf sein Daseyn oder seine besonderen Zu-
stände bezieht.

Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigsten
Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächst auf die
Realität des Daseyns desselben. Denn in ihm zuerst erhält
das Volk wahre Persönlichkeit, also die Fähigkeit zu han-
deln. Wenn wir also außer demselben dem Privatrecht
nur ein unsichtbares Daseyn, in übereinstimmenden Gefüh-
len, Gedanken und Sitten zuschreiben können, so erhält
es im Staat, durch Aufstellung des Richteramtes, Leben
und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß
in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er-
findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht diese
unvollkommene Natur hätte (Naturzustand). Vielmehr
wird jedes Volk, sobald es als solches erscheint, zugleich
als Staat erscheinen, wie auch dieser gestaltet seyn möge.
Jene Behauptung also sollte blos gelten von demjenigen

§. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht.
Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo
wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens,
unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo
treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des
Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein-
zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein
feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen
Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord-
net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne
Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich
nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu-
ſtände bezieht.

Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten
Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die
Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält
das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han-
deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht
nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh-
len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält
es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben
und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß
in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er-
findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe
unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr
wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich
als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge.
Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen

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[23/0079] §. 9. Staat, Staatsrecht, Privatrecht, Öffentliches Recht. Denn die Familie hat in ihrer dauernden Gliederung, ſo wie in dem Verhältniß des Regierens und des Gehorchens, unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Staate: und eben ſo treten die Gemeinden, die doch wahre Beſtandtheile des Staates ſind (§ 86), nahe an das Verhältniß der Ein- zelnen heran. Dennoch bleibt zwiſchen beiden Gebieten ein feſt beſtimmter Gegenſatz darin, daß in dem öffentlichen Recht das Ganze als Zweck, der Einzelne als untergeord- net erſcheint, anſtatt daß in dem Privatrecht der einzelne Menſch für ſich Zweck iſt, und jedes Rechtsverhältniß ſich nur als Mittel auf ſein Daſeyn oder ſeine beſonderen Zu- ſtände bezieht. Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigſten Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächſt auf die Realität des Daſeyns deſſelben. Denn in ihm zuerſt erhält das Volk wahre Perſönlichkeit, alſo die Fähigkeit zu han- deln. Wenn wir alſo außer demſelben dem Privatrecht nur ein unſichtbares Daſeyn, in übereinſtimmenden Gefüh- len, Gedanken und Sitten zuſchreiben können, ſo erhält es im Staat, durch Aufſtellung des Richteramtes, Leben und Wirklichkeit. Das hat jedoch nicht den Sinn, daß in dem Leben der Völker in der That eine Zeit vor Er- findung des Staats vorkäme, worin das Privatrecht dieſe unvollkommene Natur hätte (Naturzuſtand). Vielmehr wird jedes Volk, ſobald es als ſolches erſcheint, zugleich als Staat erſcheinen, wie auch dieſer geſtaltet ſeyn möge. Jene Behauptung alſo ſollte blos gelten von demjenigen

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/79>, abgerufen am 22.11.2024.