Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen. der fortschreitenden Entwicklung, die wir in demselbenwahrnehmen, in der Art seines Entstehens und Verge- hens. Diese lebendige Construction des Rechtsverhältnis- ses in jedem gegebenen Fall ist das geistige Element der juristischen Praxis, und unterscheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen. Damit dieser wichtige Punkt nicht blos im Allgemeinen verstanden werde, sondern auch nach dem ganzen Reichthum seines Inhalts zur Anschauung komme, mag es nicht überflüssig seyn, ihn durch ein Beyspiel zu erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder stehen in der Gewalt ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen. Der Empfänger zahlt dieses nach des Vaters Tod zurück, und es fragt sich, ob er dieses gezahlte Geld, als irrig gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio indebiti begründet ist oder nicht. Aber um dieses zu kön- nen, muß ihm die Gesammtanschauung des Rechtsver- hältnisses gegenwärtig seyn. Dessen einzelne Elemente waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium, welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die- ses zusammengesetzte Rechtsverhältniß hat sich fortschrei- tend entwickelt durch des Vaters Tod, dessen Beerbung, die Rückzahlung des Darlehns. Aus diesen Elementen soll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen. Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen. der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelbenwahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge- hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ- ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme, mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen. Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück, und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön- nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver- hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium, welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die- ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei- tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung, die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="8"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Allg. Natur der Quellen.</fw><lb/> der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben<lb/> wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge-<lb/> hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ-<lb/> ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der<lb/> juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf<lb/> von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige<lb/> darin ſehen. 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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
der fortſchreitenden Entwicklung, die wir in demſelben
wahrnehmen, in der Art ſeines Entſtehens und Verge-
hens. Dieſe lebendige Conſtruction des Rechtsverhältniſ-
ſes in jedem gegebenen Fall iſt das geiſtige Element der
juriſtiſchen Praxis, und unterſcheidet ihren edlen Beruf
von dem bloßen Mechanismus, den ſo viele Unkundige
darin ſehen. Damit dieſer wichtige Punkt nicht blos im
Allgemeinen verſtanden werde, ſondern auch nach dem
ganzen Reichthum ſeines Inhalts zur Anſchauung komme,
mag es nicht überflüſſig ſeyn, ihn durch ein Beyſpiel zu
erläutern. Die berühmte L. Frater a fratre behandelt
folgenden Rechtsfall. Zwey Brüder ſtehen in der Gewalt
ihres Vaters. Einer giebt dem Andern ein Darlehen.
Der Empfänger zahlt dieſes nach des Vaters Tod zurück,
und es fragt ſich, ob er dieſes gezahlte Geld, als irrig
gezahlt, wieder fordern könne. Hier hat der Richter
lediglich über die Frage zu urtheilen, ob die condictio
indebiti begründet iſt oder nicht. Aber um dieſes zu kön-
nen, muß ihm die Geſammtanſchauung des Rechtsver-
hältniſſes gegenwärtig ſeyn. Deſſen einzelne Elemente
waren: die väterliche Gewalt über beide Brüder, ein
Darlehen des Einen an den Andern, ein Peculium,
welches der Schuldner vom Vater erhalten hatte. Die-
ſes zuſammengeſetzte Rechtsverhältniß hat ſich fortſchrei-
tend entwickelt durch des Vaters Tod, deſſen Beerbung,
die Rückzahlung des Darlehns. Aus dieſen Elementen
ſoll das vom Richter begehrte einzelne Urtheil hervorgehen.
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