Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Gesetze.
kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir festzustellen
haben, so finden wir, als das erste und wichtigste Mittel,
die aus dem Zusammenhang einer Stelle selbst hervorge-
hende innere Nothwendigkeit. Diese aber darf nicht nach
allgemeinen Begriffen angenommen werden, sondern nach
dem besonderen literarischen Character der Stelle, worauf
sich die Kritik eben bezieht, oder der Klasse von Stellen,
wozu diese einzelne gehört. Daher ist denn bey dieser
Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt-
sache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenstudium
ausgebildeten kritischen Blick, und auf einem behutsamen,
sich selbst mistrauenden Wahrheitssinn. -- Ein ähnliches
Mittel besteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge-
setzstelle mit anderen Stellen; diese Vergleichung kann
jedoch der Verbesserung nur in dem Maaße Sicherheit
geben, in welchem zwischen beiden Stellen eine nähere
Verwandtschaft obwaltet. -- Die auf diese Weise begrün-
dete Verbesserung aber kann noch eine mehr äußere Be-
kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf
eine wahrscheinliche Weise zu erklären, wie der Text,
den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren
Texte bey den Abschreibern entstanden ist. Dieses kann
geschehen erstens durch die Analogie. Es giebt nämlich
gewisse Fehler, die sehr häufig und gleichförmig wieder-
kehren, und deren Voraussetzung daher von selbst eine
gewisse Wahrscheinlichkeit mit sich führt. Dahin gehört
die häufige Verwechslung bestimmter Buchstaben unter

Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir feſtzuſtellen
haben, ſo finden wir, als das erſte und wichtigſte Mittel,
die aus dem Zuſammenhang einer Stelle ſelbſt hervorge-
hende innere Nothwendigkeit. Dieſe aber darf nicht nach
allgemeinen Begriffen angenommen werden, ſondern nach
dem beſonderen literariſchen Character der Stelle, worauf
ſich die Kritik eben bezieht, oder der Klaſſe von Stellen,
wozu dieſe einzelne gehört. Daher iſt denn bey dieſer
Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt-
ſache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenſtudium
ausgebildeten kritiſchen Blick, und auf einem behutſamen,
ſich ſelbſt mistrauenden Wahrheitsſinn. — Ein ähnliches
Mittel beſteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge-
ſetzſtelle mit anderen Stellen; dieſe Vergleichung kann
jedoch der Verbeſſerung nur in dem Maaße Sicherheit
geben, in welchem zwiſchen beiden Stellen eine nähere
Verwandtſchaft obwaltet. — Die auf dieſe Weiſe begrün-
dete Verbeſſerung aber kann noch eine mehr äußere Be-
kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf
eine wahrſcheinliche Weiſe zu erklären, wie der Text,
den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren
Texte bey den Abſchreibern entſtanden iſt. Dieſes kann
geſchehen erſtens durch die Analogie. Es giebt nämlich
gewiſſe Fehler, die ſehr häufig und gleichförmig wieder-
kehren, und deren Vorausſetzung daher von ſelbſt eine
gewiſſe Wahrſcheinlichkeit mit ſich führt. Dahin gehört
die häufige Verwechslung beſtimmter Buchſtaben unter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0306" n="250"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hi rendition="#aq">IV.</hi> Auslegung der Ge&#x017F;etze.</fw><lb/>
kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen<lb/>
haben, &#x017F;o finden wir, als das er&#x017F;te und wichtig&#x017F;te Mittel,<lb/>
die aus dem Zu&#x017F;ammenhang einer Stelle &#x017F;elb&#x017F;t hervorge-<lb/>
hende innere Nothwendigkeit. Die&#x017F;e aber darf nicht nach<lb/>
allgemeinen Begriffen angenommen werden, &#x017F;ondern nach<lb/>
dem be&#x017F;onderen literari&#x017F;chen Character der Stelle, worauf<lb/>
&#x017F;ich die Kritik eben bezieht, oder der Kla&#x017F;&#x017F;e von Stellen,<lb/>
wozu die&#x017F;e einzelne gehört. Daher i&#x017F;t denn bey die&#x017F;er<lb/>
Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt-<lb/>
&#x017F;ache beruht auf einem durch anhaltendes Quellen&#x017F;tudium<lb/>
ausgebildeten kriti&#x017F;chen Blick, und auf einem behut&#x017F;amen,<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mistrauenden Wahrheits&#x017F;inn. &#x2014; Ein ähnliches<lb/>
Mittel be&#x017F;teht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge-<lb/>
&#x017F;etz&#x017F;telle mit anderen Stellen; die&#x017F;e Vergleichung kann<lb/>
jedoch der Verbe&#x017F;&#x017F;erung nur in dem Maaße Sicherheit<lb/>
geben, in welchem zwi&#x017F;chen beiden Stellen eine nähere<lb/>
Verwandt&#x017F;chaft obwaltet. &#x2014; Die auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e begrün-<lb/>
dete Verbe&#x017F;&#x017F;erung aber kann noch eine mehr äußere Be-<lb/>
kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf<lb/>
eine wahr&#x017F;cheinliche Wei&#x017F;e zu erklären, wie der Text,<lb/>
den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren<lb/>
Texte bey den Ab&#x017F;chreibern ent&#x017F;tanden i&#x017F;t. Die&#x017F;es kann<lb/>
ge&#x017F;chehen er&#x017F;tens durch die Analogie. Es giebt nämlich<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Fehler, die &#x017F;ehr häufig und gleichförmig wieder-<lb/>
kehren, und deren Voraus&#x017F;etzung daher von &#x017F;elb&#x017F;t eine<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Wahr&#x017F;cheinlichkeit mit &#x017F;ich führt. Dahin gehört<lb/>
die häufige Verwechslung be&#x017F;timmter Buch&#x017F;taben unter<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0306] Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze. kenntnißmitteln für den wahren Text, den wir feſtzuſtellen haben, ſo finden wir, als das erſte und wichtigſte Mittel, die aus dem Zuſammenhang einer Stelle ſelbſt hervorge- hende innere Nothwendigkeit. Dieſe aber darf nicht nach allgemeinen Begriffen angenommen werden, ſondern nach dem beſonderen literariſchen Character der Stelle, worauf ſich die Kritik eben bezieht, oder der Klaſſe von Stellen, wozu dieſe einzelne gehört. Daher iſt denn bey dieſer Art der Kritik mit Regeln wenig auszurichten: die Haupt- ſache beruht auf einem durch anhaltendes Quellenſtudium ausgebildeten kritiſchen Blick, und auf einem behutſamen, ſich ſelbſt mistrauenden Wahrheitsſinn. — Ein ähnliches Mittel beſteht in der Vergleichung der zweifelhaften Ge- ſetzſtelle mit anderen Stellen; dieſe Vergleichung kann jedoch der Verbeſſerung nur in dem Maaße Sicherheit geben, in welchem zwiſchen beiden Stellen eine nähere Verwandtſchaft obwaltet. — Die auf dieſe Weiſe begrün- dete Verbeſſerung aber kann noch eine mehr äußere Be- kräftigung dadurch erhalten, wenn es uns gelingt auf eine wahrſcheinliche Weiſe zu erklären, wie der Text, den wir für den unrichtigen erklären, aus dem wahren Texte bey den Abſchreibern entſtanden iſt. Dieſes kann geſchehen erſtens durch die Analogie. Es giebt nämlich gewiſſe Fehler, die ſehr häufig und gleichförmig wieder- kehren, und deren Vorausſetzung daher von ſelbſt eine gewiſſe Wahrſcheinlichkeit mit ſich führt. Dahin gehört die häufige Verwechslung beſtimmter Buchſtaben unter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/306
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/306>, abgerufen am 23.11.2024.