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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 36. Mangelhafte Gesetze. Unbestimmter Ausdruck.

Drittens endlich kann die Unbestimmtheit aufgehoben
werden durch die Vergleichung des innern Werthes des-
jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an sich
mögliche Erklärung dem Gesetze zugeschrieben wird. So
z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo-
sen Inhalt führt, die andere nicht (g). Eben so wenn
das Resultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck
angemessener ist, als das der anderen (h). Endlich wenn

strengen Recht, die andere der
aequitas entspricht, so soll diese
letzte vorgehen (praecipuam esse
rationem
). Scheinbar wider-
spricht L. 1 C. de leg. (1. 14.)
vom J. 316: "Inter aequitatem
jusque interpositam interpre-
tationem nobis solis et opor-
tet et licet inspicere."
Die
Annahme, daß L. 8 cit. älteres,
L. 1 cit. neueres Recht darstelle,
jene also durch diese antiquirt
sey, ist höchst unwahrscheinlich,
da beide in Constantin's Regie-
rung fallen, und nur zwey Jahre
aus einander liegen. Um den
Widerspruch zu heben, hat man in
L. 8 cit. die Leseart scriptae an-
genommen (eine durch Gesetz an-
erkannte aequitas), die zwar die
alten Ausgaben von Chevallon
(Paris. 1526. 8.) und von Ha-
loander für sich hat, aber aus
inneren Gründen ganz verwerf-
lich ist. Donellus (I. 13) erklärt
L. 8 von einer bloßen Einschrän-
kung, L. 1 von gänzlicher Auf-
hebung des strengen Rechts durch
aequitas: für diesen Unterschied
ist aber in den Stellen selbst gar
keine Andeutung. -- Der Wi-
derspruch wäre schon entfernt,
wenn man nur die L. 1 cit. auf
die Correction des Ausdrucks
durch den Gedanken (§ 37) be-
zöge, die wegen der bloßen ae-
quitas
dem Richter nicht gestat-
tet seyn soll. Allein ich glaube
vielmehr, daß die Stelle gar
nicht von Auslegung, sondern
von Fortbildung des Rechts
(§ 47) zu verstehen ist, wodurch
denn jeder Widerspruch mit L. 8
cit.
völlig verschwindet; der Aus-
druck interpretationem steht da-
bey nicht im Wege.
(g) L. 19 de leg. (1. 3.) "In
ambigua voce legis ea potius
accipienda est significatio, quae
vitio caret"
...
(h) L. 67 de R. J. (50. 17.)
"Quotiens idem sermo duas
sententias exprimit, ea potis-
simum excipiatur, quae rei ge-
rendae aptior est."
Eine An-
wendung dieser Regel enthält
L. 3 de constit. (1. 4.) "Bene-
ficium Imperatoris, quod a di-
§. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck.

Drittens endlich kann die Unbeſtimmtheit aufgehoben
werden durch die Vergleichung des innern Werthes des-
jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an ſich
mögliche Erklärung dem Geſetze zugeſchrieben wird. So
z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo-
ſen Inhalt führt, die andere nicht (g). Eben ſo wenn
das Reſultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck
angemeſſener iſt, als das der anderen (h). Endlich wenn

ſtrengen Recht, die andere der
aequitas entſpricht, ſo ſoll dieſe
letzte vorgehen (praecipuam esse
rationem
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ſpricht L. 1 C. de leg. (1. 14.)
vom J. 316: „Inter aequitatem
jusque interpositam interpre-
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tet et licet inspicere.”
Die
Annahme, daß L. 8 cit. älteres,
L. 1 cit. neueres Recht darſtelle,
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ſey, iſt höchſt unwahrſcheinlich,
da beide in Conſtantin’s Regie-
rung fallen, und nur zwey Jahre
aus einander liegen. Um den
Widerſpruch zu heben, hat man in
L. 8 cit. die Leſeart scriptae an-
genommen (eine durch Geſetz an-
erkannte aequitas), die zwar die
alten Ausgaben von Chevallon
(Paris. 1526. 8.) und von Ha-
loander für ſich hat, aber aus
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lich iſt. Donellus (I. 13) erklärt
L. 8 von einer bloßen Einſchrän-
kung, L. 1 von gänzlicher Auf-
hebung des ſtrengen Rechts durch
aequitas: für dieſen Unterſchied
iſt aber in den Stellen ſelbſt gar
keine Andeutung. — Der Wi-
derſpruch wäre ſchon entfernt,
wenn man nur die L. 1 cit. auf
die Correction des Ausdrucks
durch den Gedanken (§ 37) be-
zöge, die wegen der bloßen ae-
quitas
dem Richter nicht geſtat-
tet ſeyn ſoll. Allein ich glaube
vielmehr, daß die Stelle gar
nicht von Auslegung, ſondern
von Fortbildung des Rechts
(§ 47) zu verſtehen iſt, wodurch
denn jeder Widerſpruch mit L. 8
cit.
völlig verſchwindet; der Aus-
druck interpretationem ſteht da-
bey nicht im Wege.
(g) L. 19 de leg. (1. 3.) „In
ambigua voce legis ea potius
accipienda est significatio, quae
vitio caret”
(h) L. 67 de R. J. (50. 17.)
„Quotiens idem sermo duas
sententias exprimit, ea potis-
simum excipiatur, quae rei ge-
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[229/0285] §. 36. Mangelhafte Geſetze. Unbeſtimmter Ausdruck. Drittens endlich kann die Unbeſtimmtheit aufgehoben werden durch die Vergleichung des innern Werthes des- jenigen Inhalts, der durch die eine und die andre an ſich mögliche Erklärung dem Geſetze zugeſchrieben wird. So z. B. wenn die eine Erklärung auf einen leeren, zwecklo- ſen Inhalt führt, die andere nicht (g). Eben ſo wenn das Reſultat der einen Erklärung dem vorliegenden Zweck angemeſſener iſt, als das der anderen (h). Endlich wenn (f) (g) L. 19 de leg. (1. 3.) „In ambigua voce legis ea potius accipienda est significatio, quae vitio caret” … (h) L. 67 de R. J. (50. 17.) „Quotiens idem sermo duas sententias exprimit, ea potis- simum excipiatur, quae rei ge- rendae aptior est.” Eine An- wendung dieſer Regel enthält L. 3 de constit. (1. 4.) „Bene- ficium Imperatoris, quod a di- (f) ſtrengen Recht, die andere der aequitas entſpricht, ſo ſoll dieſe letzte vorgehen (praecipuam esse rationem). Scheinbar wider- ſpricht L. 1 C. de leg. (1. 14.) vom J. 316: „Inter aequitatem jusque interpositam interpre- tationem nobis solis et opor- tet et licet inspicere.” Die Annahme, daß L. 8 cit. älteres, L. 1 cit. neueres Recht darſtelle, jene alſo durch dieſe antiquirt ſey, iſt höchſt unwahrſcheinlich, da beide in Conſtantin’s Regie- rung fallen, und nur zwey Jahre aus einander liegen. Um den Widerſpruch zu heben, hat man in L. 8 cit. die Leſeart scriptae an- genommen (eine durch Geſetz an- erkannte aequitas), die zwar die alten Ausgaben von Chevallon (Paris. 1526. 8.) und von Ha- loander für ſich hat, aber aus inneren Gründen ganz verwerf- lich iſt. Donellus (I. 13) erklärt L. 8 von einer bloßen Einſchrän- kung, L. 1 von gänzlicher Auf- hebung des ſtrengen Rechts durch aequitas: für dieſen Unterſchied iſt aber in den Stellen ſelbſt gar keine Andeutung. — Der Wi- derſpruch wäre ſchon entfernt, wenn man nur die L. 1 cit. auf die Correction des Ausdrucks durch den Gedanken (§ 37) be- zöge, die wegen der bloßen ae- quitas dem Richter nicht geſtat- tet ſeyn ſoll. Allein ich glaube vielmehr, daß die Stelle gar nicht von Auslegung, ſondern von Fortbildung des Rechts (§ 47) zu verſtehen iſt, wodurch denn jeder Widerſpruch mit L. 8 cit. völlig verſchwindet; der Aus- druck interpretationem ſteht da- bey nicht im Wege.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/285>, abgerufen am 22.11.2024.