Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 20. Wissenschaftliches Recht. Fortsetzung.
unterscheiden. Ein Theil ist gesunder Natur, und beruht
auf neuen Bedürfnissen, wie sie aus der Verschiedenheit
der Zustände, unter andern aus dem sehr veränderten
Gerichtswesen, zum Theil auch aus der durch das Chri-
stenthum großentheils umgebildeten sittlichen Lebensansicht,
natürlich hervorgegangen sind: diesem müssen wir, nach
den so eben entwickelten Ansichten, die Kraft und Reali-
tät eines auf dem wissenschaftlichen Wege anerkannten
Gewohnheitsrechts zuschreiben. Dabey ist es auch gleich-
gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen
Versuch machten, solche Sätze aus dem Römischen Recht
abzuleiten. Dieser Irrthum kann die Wahrheit der Sätze
selbst nicht mindern: nur müssen wir uns nicht mit der
Annahme täuschen, als ob hier die irrige Deduction eine
bloße Form wäre. Jene Juristen meynten es damit ganz
ehrlich, und wir müssen die Ergründung des wahren Rö-
mischen Rechts in solchen Fällen als wesentliches Stück
unsrer Aufgabe ansehen: nicht um es aufrecht zu halten,
sondern um den wahren Umfang der Neuerung festzu-
stellen. -- Ein anderer Theil dagegen ist lediglich aus
der oben erwähnten characterlosen Verworrenheit, also
aus mangelhafter Wissenschaft, hervorgegangen; diesen
haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen,
ohne daß ihn ein langer, ungestörter Besitzstand zu schützen
vermöchte: um so mehr, als sich ihm großentheils ein
innerer Widerspruch, also ein logischer Grundfehler, wird
nachweisen lassen. Was diese Natur an sich trägt, hat

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
unterſcheiden. Ein Theil iſt geſunder Natur, und beruht
auf neuen Bedürfniſſen, wie ſie aus der Verſchiedenheit
der Zuſtände, unter andern aus dem ſehr veränderten
Gerichtsweſen, zum Theil auch aus der durch das Chri-
ſtenthum großentheils umgebildeten ſittlichen Lebensanſicht,
natürlich hervorgegangen ſind: dieſem müſſen wir, nach
den ſo eben entwickelten Anſichten, die Kraft und Reali-
tät eines auf dem wiſſenſchaftlichen Wege anerkannten
Gewohnheitsrechts zuſchreiben. Dabey iſt es auch gleich-
gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen
Verſuch machten, ſolche Sätze aus dem Römiſchen Recht
abzuleiten. Dieſer Irrthum kann die Wahrheit der Sätze
ſelbſt nicht mindern: nur müſſen wir uns nicht mit der
Annahme täuſchen, als ob hier die irrige Deduction eine
bloße Form wäre. Jene Juriſten meynten es damit ganz
ehrlich, und wir müſſen die Ergründung des wahren Rö-
miſchen Rechts in ſolchen Fällen als weſentliches Stück
unſrer Aufgabe anſehen: nicht um es aufrecht zu halten,
ſondern um den wahren Umfang der Neuerung feſtzu-
ſtellen. — Ein anderer Theil dagegen iſt lediglich aus
der oben erwähnten characterloſen Verworrenheit, alſo
aus mangelhafter Wiſſenſchaft, hervorgegangen; dieſen
haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen,
ohne daß ihn ein langer, ungeſtörter Beſitzſtand zu ſchützen
vermöchte: um ſo mehr, als ſich ihm großentheils ein
innerer Widerſpruch, alſo ein logiſcher Grundfehler, wird
nachweiſen laſſen. Was dieſe Natur an ſich trägt, hat

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="93"/><fw place="top" type="header">§. 20. Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches Recht. Fort&#x017F;etzung.</fw><lb/>
unter&#x017F;cheiden. Ein Theil i&#x017F;t ge&#x017F;under Natur, und beruht<lb/>
auf neuen Bedürfni&#x017F;&#x017F;en, wie &#x017F;ie aus der Ver&#x017F;chiedenheit<lb/>
der Zu&#x017F;tände, unter andern aus dem &#x017F;ehr veränderten<lb/>
Gerichtswe&#x017F;en, zum Theil auch aus der durch das Chri-<lb/>
&#x017F;tenthum großentheils umgebildeten &#x017F;ittlichen Lebensan&#x017F;icht,<lb/>
natürlich hervorgegangen &#x017F;ind: die&#x017F;em mü&#x017F;&#x017F;en wir, nach<lb/>
den &#x017F;o eben entwickelten An&#x017F;ichten, die Kraft und Reali-<lb/>
tät eines auf dem wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Wege anerkannten<lb/>
Gewohnheitsrechts zu&#x017F;chreiben. Dabey i&#x017F;t es auch gleich-<lb/>
gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen<lb/>
Ver&#x017F;uch machten, &#x017F;olche Sätze aus dem Römi&#x017F;chen Recht<lb/>
abzuleiten. Die&#x017F;er Irrthum kann die Wahrheit der Sätze<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nicht mindern: nur mü&#x017F;&#x017F;en wir uns nicht mit der<lb/>
Annahme täu&#x017F;chen, als ob hier die irrige Deduction eine<lb/>
bloße Form wäre. Jene Juri&#x017F;ten meynten es damit ganz<lb/>
ehrlich, und wir mü&#x017F;&#x017F;en die Ergründung des wahren Rö-<lb/>
mi&#x017F;chen Rechts in &#x017F;olchen Fällen als we&#x017F;entliches Stück<lb/>
un&#x017F;rer Aufgabe an&#x017F;ehen: nicht um es aufrecht zu halten,<lb/>
&#x017F;ondern um den wahren Umfang der Neuerung fe&#x017F;tzu-<lb/>
&#x017F;tellen. &#x2014; Ein anderer Theil dagegen i&#x017F;t lediglich aus<lb/>
der oben erwähnten characterlo&#x017F;en Verworrenheit, al&#x017F;o<lb/>
aus mangelhafter Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, hervorgegangen; die&#x017F;en<lb/>
haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen,<lb/>
ohne daß ihn ein langer, unge&#x017F;törter Be&#x017F;itz&#x017F;tand zu &#x017F;chützen<lb/>
vermöchte: um &#x017F;o mehr, als &#x017F;ich ihm großentheils ein<lb/>
innerer Wider&#x017F;pruch, al&#x017F;o ein logi&#x017F;cher Grundfehler, wird<lb/>
nachwei&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en. Was die&#x017F;e Natur an &#x017F;ich trägt, hat<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0149] §. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung. unterſcheiden. Ein Theil iſt geſunder Natur, und beruht auf neuen Bedürfniſſen, wie ſie aus der Verſchiedenheit der Zuſtände, unter andern aus dem ſehr veränderten Gerichtsweſen, zum Theil auch aus der durch das Chri- ſtenthum großentheils umgebildeten ſittlichen Lebensanſicht, natürlich hervorgegangen ſind: dieſem müſſen wir, nach den ſo eben entwickelten Anſichten, die Kraft und Reali- tät eines auf dem wiſſenſchaftlichen Wege anerkannten Gewohnheitsrechts zuſchreiben. Dabey iſt es auch gleich- gültig, wenn vielleicht frühere Rechtslehrer den irrigen Verſuch machten, ſolche Sätze aus dem Römiſchen Recht abzuleiten. Dieſer Irrthum kann die Wahrheit der Sätze ſelbſt nicht mindern: nur müſſen wir uns nicht mit der Annahme täuſchen, als ob hier die irrige Deduction eine bloße Form wäre. Jene Juriſten meynten es damit ganz ehrlich, und wir müſſen die Ergründung des wahren Rö- miſchen Rechts in ſolchen Fällen als weſentliches Stück unſrer Aufgabe anſehen: nicht um es aufrecht zu halten, ſondern um den wahren Umfang der Neuerung feſtzu- ſtellen. — Ein anderer Theil dagegen iſt lediglich aus der oben erwähnten characterloſen Verworrenheit, alſo aus mangelhafter Wiſſenſchaft, hervorgegangen; dieſen haben wir als Irrthum aufzudecken und zu verdrängen, ohne daß ihn ein langer, ungeſtörter Beſitzſtand zu ſchützen vermöchte: um ſo mehr, als ſich ihm großentheils ein innerer Widerſpruch, alſo ein logiſcher Grundfehler, wird nachweiſen laſſen. Was dieſe Natur an ſich trägt, hat

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/149
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/149>, abgerufen am 07.05.2024.