Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

soll, einen gegebenen Buchstaben, den er nicht inter-
pretiren darf, mechanisch anzuwenden: betrachtet man
dieses Verhältniß als den äußersten Punkt auf einer
Seite, so würde das entgegen gesetzte äußerste darin
bestehen, daß für jeden Rechtsfall der Richter das
Recht zu finden hätte, wobey durch die Sicherheit ei-
ner streng wissenschaftlichen Methode dennoch alle
Willkühr ausgeschlossen wäre. Zu diesem zweyten
Endpunkte aber ist wenigstens eine Annäherung mög-
lich, und in ihm wäre die älteste Deutsche Gerichts-
verfassung in verjüngter Form wieder erweckt.

Ich bin oben von einem dreyfachen Bedürfniß
ausgegangen: Rechtsquelle, Personal, und Prozeß-
form, alle im löblichem Zustande. Wie die Rechts-
quelle auf gründlicher und verbreiteter Wissenschaft
beruhen solle, ist gezeigt worden: desgleichen wie eben
dadurch das Personal der Rechtspflege für diesen Be-
ruf wahrhaft gewonnen werden könne. Allein bei-
des wird allerdings nicht zureichen, wenn die Form
des Prozesses schlecht ist. Von dieser Seite aber be-
dürfen manche Deutsche Länder einer schnellen und
gründlichen Hülfe. Die allgemeinsten Gebrechen sind:
Anarchie der Advokaten, Misbrauch der Fristen und
ihrer Verlängerungen, Vervielfältigung der Instan-
zen und vorzüglich der Aktenversendung, die auf ver-
ständige Weise angewendet die trefflichsten Dienste
leisten würde. Dagegen muß allerdings durch Ge-
setzgebung geholfen werden: auch ist gemeinsame Be-

ſoll, einen gegebenen Buchſtaben, den er nicht inter-
pretiren darf, mechaniſch anzuwenden: betrachtet man
dieſes Verhältniß als den äußerſten Punkt auf einer
Seite, ſo würde das entgegen geſetzte äußerſte darin
beſtehen, daß für jeden Rechtsfall der Richter das
Recht zu finden hätte, wobey durch die Sicherheit ei-
ner ſtreng wiſſenſchaftlichen Methode dennoch alle
Willkühr ausgeſchloſſen wäre. Zu dieſem zweyten
Endpunkte aber iſt wenigſtens eine Annäherung mög-
lich, und in ihm wäre die älteſte Deutſche Gerichts-
verfaſſung in verjüngter Form wieder erweckt.

Ich bin oben von einem dreyfachen Bedürfniß
ausgegangen: Rechtsquelle, Perſonal, und Prozeß-
form, alle im löblichem Zuſtande. Wie die Rechts-
quelle auf gründlicher und verbreiteter Wiſſenſchaft
beruhen ſolle, iſt gezeigt worden: desgleichen wie eben
dadurch das Perſonal der Rechtspflege für dieſen Be-
ruf wahrhaft gewonnen werden könne. Allein bei-
des wird allerdings nicht zureichen, wenn die Form
des Prozeſſes ſchlecht iſt. Von dieſer Seite aber be-
dürfen manche Deutſche Länder einer ſchnellen und
gründlichen Hülfe. Die allgemeinſten Gebrechen ſind:
Anarchie der Advokaten, Misbrauch der Friſten und
ihrer Verlängerungen, Vervielfältigung der Inſtan-
zen und vorzüglich der Aktenverſendung, die auf ver-
ſtändige Weiſe angewendet die trefflichſten Dienſte
leiſten würde. Dagegen muß allerdings durch Ge-
ſetzgebung geholfen werden: auch iſt gemeinſame Be-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0140" n="130"/>
&#x017F;oll, einen gegebenen Buch&#x017F;taben, den er nicht inter-<lb/>
pretiren darf, mechani&#x017F;ch anzuwenden: betrachtet man<lb/>
die&#x017F;es Verhältniß als den äußer&#x017F;ten Punkt auf einer<lb/>
Seite, &#x017F;o würde das entgegen ge&#x017F;etzte äußer&#x017F;te darin<lb/>
be&#x017F;tehen, daß für jeden Rechtsfall der Richter das<lb/>
Recht zu finden hätte, wobey durch die Sicherheit ei-<lb/>
ner &#x017F;treng wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Methode dennoch alle<lb/>
Willkühr ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wäre. Zu die&#x017F;em zweyten<lb/>
Endpunkte aber i&#x017F;t wenig&#x017F;tens eine Annäherung mög-<lb/>
lich, und in ihm wäre die älte&#x017F;te Deut&#x017F;che Gerichts-<lb/>
verfa&#x017F;&#x017F;ung in verjüngter Form wieder erweckt.</p><lb/>
        <p>Ich bin oben von einem dreyfachen Bedürfniß<lb/>
ausgegangen: Rechtsquelle, Per&#x017F;onal, und Prozeß-<lb/>
form, alle im löblichem Zu&#x017F;tande. Wie die Rechts-<lb/>
quelle auf gründlicher und verbreiteter Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
beruhen &#x017F;olle, i&#x017F;t gezeigt worden: desgleichen wie eben<lb/>
dadurch das Per&#x017F;onal der Rechtspflege für die&#x017F;en Be-<lb/>
ruf wahrhaft gewonnen werden könne. Allein bei-<lb/>
des wird allerdings nicht zureichen, wenn die Form<lb/>
des Proze&#x017F;&#x017F;es &#x017F;chlecht i&#x017F;t. Von die&#x017F;er Seite aber be-<lb/>
dürfen manche Deut&#x017F;che Länder einer &#x017F;chnellen und<lb/>
gründlichen Hülfe. Die allgemein&#x017F;ten Gebrechen &#x017F;ind:<lb/>
Anarchie der Advokaten, Misbrauch der Fri&#x017F;ten und<lb/>
ihrer Verlängerungen, Vervielfältigung der In&#x017F;tan-<lb/>
zen und vorzüglich der Aktenver&#x017F;endung, die auf ver-<lb/>
&#x017F;tändige Wei&#x017F;e angewendet die trefflich&#x017F;ten Dien&#x017F;te<lb/>
lei&#x017F;ten würde. Dagegen muß allerdings durch Ge-<lb/>
&#x017F;etzgebung geholfen werden: auch i&#x017F;t gemein&#x017F;ame Be-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0140] ſoll, einen gegebenen Buchſtaben, den er nicht inter- pretiren darf, mechaniſch anzuwenden: betrachtet man dieſes Verhältniß als den äußerſten Punkt auf einer Seite, ſo würde das entgegen geſetzte äußerſte darin beſtehen, daß für jeden Rechtsfall der Richter das Recht zu finden hätte, wobey durch die Sicherheit ei- ner ſtreng wiſſenſchaftlichen Methode dennoch alle Willkühr ausgeſchloſſen wäre. Zu dieſem zweyten Endpunkte aber iſt wenigſtens eine Annäherung mög- lich, und in ihm wäre die älteſte Deutſche Gerichts- verfaſſung in verjüngter Form wieder erweckt. Ich bin oben von einem dreyfachen Bedürfniß ausgegangen: Rechtsquelle, Perſonal, und Prozeß- form, alle im löblichem Zuſtande. Wie die Rechts- quelle auf gründlicher und verbreiteter Wiſſenſchaft beruhen ſolle, iſt gezeigt worden: desgleichen wie eben dadurch das Perſonal der Rechtspflege für dieſen Be- ruf wahrhaft gewonnen werden könne. Allein bei- des wird allerdings nicht zureichen, wenn die Form des Prozeſſes ſchlecht iſt. Von dieſer Seite aber be- dürfen manche Deutſche Länder einer ſchnellen und gründlichen Hülfe. Die allgemeinſten Gebrechen ſind: Anarchie der Advokaten, Misbrauch der Friſten und ihrer Verlängerungen, Vervielfältigung der Inſtan- zen und vorzüglich der Aktenverſendung, die auf ver- ſtändige Weiſe angewendet die trefflichſten Dienſte leiſten würde. Dagegen muß allerdings durch Ge- ſetzgebung geholfen werden: auch iſt gemeinſame Be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/140
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/140>, abgerufen am 03.05.2024.