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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Menschenliebe des Erlösers.
hintennach, daß wir es nicht so böse gemeinet haben, und,
wenn wir endlich im Frieden dahingehen sollten, dann
wollen wir arbeiten, beten, Gott kennen lernen, wollen
jezt die Zeit recht wohl anwenden -- als wenn uns die
Sonne nicht lange vorher hoch am Mittag gestanden
wäre! O Sterbebette des Christen! wie oft bist du der
Schauplatz von so manchem Elend, das kein Elend zu
seyn schien im hüpfenden Leben! O wie oft begräbst du
auf einmal alle Vorurtheile, die vorher keine Kunst, keine
Wissenschaft, keine Beredsamkeit zertrümmerte! Chri-
sten! wißt ihr auch, wie ihr sterben solltet? So daß man
sehen könnte, ihr hättet es in eurem ganzen Leben gelernt.
So daß Freude und Wonne über die nahe kommende
Herrlichkeit Gottes bey euch stärker, kräftiger, sichtbarer
wäre, als jede andre irrdische Traurigkeit. So wie Je-
sus Christus, der auch dabey natürlich blieb, der Mut-
ter die Wunde über seinen Tod heilte, aber hernach
jauchzte, die letzte Kraft seines zur Scherbe vertrockneten
Körpers sammlete, und über die erschrockene und ver-
hüllte Natur hinschrie, daß nun alles vollendet sey.
Ach, daß es uns so gut werden möge, so ringet nach der
Seligkeit, ihm, wo nicht in der Menge, in der Schön-
heit, in der Größe seiner Tugenden, doch im Eifer, in
der Freude, im Wunsch, so viel Gutes zu thun, als mög-
lich, ähnlich zu werden. Sorgfältig laßt uns dazu jede
Stunde auskaufen. Mancher sehnt sich, Gutes zu thun,
andre hindern ihn; aber im stillen Zimmer vor Gott lie-
gen, sein Herz bessern, sich zur Tugend stärken, für den
Fortgang der guten Sache des Evangeliums unter Chri-
sten und Nichtchristen, für das Vaterland und für jedes
andre bewohnte Gebiet der Welt, für die Kirche, die die

Wahr-

Menſchenliebe des Erlöſers.
hintennach, daß wir es nicht ſo böſe gemeinet haben, und,
wenn wir endlich im Frieden dahingehen ſollten, dann
wollen wir arbeiten, beten, Gott kennen lernen, wollen
jezt die Zeit recht wohl anwenden — als wenn uns die
Sonne nicht lange vorher hoch am Mittag geſtanden
wäre! O Sterbebette des Chriſten! wie oft biſt du der
Schauplatz von ſo manchem Elend, das kein Elend zu
ſeyn ſchien im hüpfenden Leben! O wie oft begräbſt du
auf einmal alle Vorurtheile, die vorher keine Kunſt, keine
Wiſſenſchaft, keine Beredſamkeit zertrümmerte! Chri-
ſten! wißt ihr auch, wie ihr ſterben ſolltet? So daß man
ſehen könnte, ihr hättet es in eurem ganzen Leben gelernt.
So daß Freude und Wonne über die nahe kommende
Herrlichkeit Gottes bey euch ſtärker, kräftiger, ſichtbarer
wäre, als jede andre irrdiſche Traurigkeit. So wie Je-
ſus Chriſtus, der auch dabey natürlich blieb, der Mut-
ter die Wunde über ſeinen Tod heilte, aber hernach
jauchzte, die letzte Kraft ſeines zur Scherbe vertrockneten
Körpers ſammlete, und über die erſchrockene und ver-
hüllte Natur hinſchrie, daß nun alles vollendet ſey.
Ach, daß es uns ſo gut werden möge, ſo ringet nach der
Seligkeit, ihm, wo nicht in der Menge, in der Schön-
heit, in der Größe ſeiner Tugenden, doch im Eifer, in
der Freude, im Wunſch, ſo viel Gutes zu thun, als mög-
lich, ähnlich zu werden. Sorgfältig laßt uns dazu jede
Stunde auskaufen. Mancher ſehnt ſich, Gutes zu thun,
andre hindern ihn; aber im ſtillen Zimmer vor Gott lie-
gen, ſein Herz beſſern, ſich zur Tugend ſtärken, für den
Fortgang der guten Sache des Evangeliums unter Chri-
ſten und Nichtchriſten, für das Vaterland und für jedes
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[188/0194] Menſchenliebe des Erlöſers. hintennach, daß wir es nicht ſo böſe gemeinet haben, und, wenn wir endlich im Frieden dahingehen ſollten, dann wollen wir arbeiten, beten, Gott kennen lernen, wollen jezt die Zeit recht wohl anwenden — als wenn uns die Sonne nicht lange vorher hoch am Mittag geſtanden wäre! O Sterbebette des Chriſten! wie oft biſt du der Schauplatz von ſo manchem Elend, das kein Elend zu ſeyn ſchien im hüpfenden Leben! O wie oft begräbſt du auf einmal alle Vorurtheile, die vorher keine Kunſt, keine Wiſſenſchaft, keine Beredſamkeit zertrümmerte! Chri- ſten! wißt ihr auch, wie ihr ſterben ſolltet? So daß man ſehen könnte, ihr hättet es in eurem ganzen Leben gelernt. So daß Freude und Wonne über die nahe kommende Herrlichkeit Gottes bey euch ſtärker, kräftiger, ſichtbarer wäre, als jede andre irrdiſche Traurigkeit. So wie Je- ſus Chriſtus, der auch dabey natürlich blieb, der Mut- ter die Wunde über ſeinen Tod heilte, aber hernach jauchzte, die letzte Kraft ſeines zur Scherbe vertrockneten Körpers ſammlete, und über die erſchrockene und ver- hüllte Natur hinſchrie, daß nun alles vollendet ſey. Ach, daß es uns ſo gut werden möge, ſo ringet nach der Seligkeit, ihm, wo nicht in der Menge, in der Schön- heit, in der Größe ſeiner Tugenden, doch im Eifer, in der Freude, im Wunſch, ſo viel Gutes zu thun, als mög- lich, ähnlich zu werden. Sorgfältig laßt uns dazu jede Stunde auskaufen. Mancher ſehnt ſich, Gutes zu thun, andre hindern ihn; aber im ſtillen Zimmer vor Gott lie- gen, ſein Herz beſſern, ſich zur Tugend ſtärken, für den Fortgang der guten Sache des Evangeliums unter Chri- ſten und Nichtchriſten, für das Vaterland und für jedes andre bewohnte Gebiet der Welt, für die Kirche, die die Wahr-

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/194>, abgerufen am 23.06.2024.