Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Menschenliebe des Erlösers. O warum mögen wir uns doch den Tropfen des Lebens,wenn er schön und klar fließt, selber schwärzen? Tretet oft dorthin, wo das Menschengeschlecht in Schichten über Schichten liegt, und erinnert euch, so ost die Lust zur Welt mächtig werden will, daß das Menschenleben, wie Blätter am Baum ist, die der Wind herabwirft. Mit der Farbe der Wangen verlöscht auch das Feuer, das uns jezt plagt. Was haben wir dann, wenn uns Gold- sand zwischen den Händen zerrinnt, und der Tand der Erde noch über dem Grab schwebt, das nach wenigen Jahren zusammensinkt, und selbst unter denen, denen es werth seyn sollte, unter denen, die es gebaut haben, vergessen wird? Jeder stelie sich selber in die Classe, zu der er gehört. Der Erlöser spricht niemanden seinen guten Willen, seinen Anfang, sein stufenweises Zuneh- men ab. Gott ist an unserm Unglück unschuldig -- das ist das, was unser Erlöser lehren wollte. Eben die Religion, die den Frommen an der Hand haltet, ist die- selbige, die der Spötter schmäht, die der Unredliche, wie ein Treuloser, bald umarmt, bald wegstößt, und die der Irrdischgesinnte im Gewühl, unter den Sorgen, Reichthum und Wollust dieses Lebens vergißt. Es ist einerley Saamen, der hier zertreten, dort erstickt wird, und der hier eine Hand voll Blühten trägt. Das müsse uns auf die Seele fallen. Gott erbarmt sich über uns mit unpartheyischer Liebe. Wir können alle weise und gut werden. Die Menschheit ist vortrefflich im Handwerksmann, wie im König. Was werden wir dann einst antworten, wenn Himmel und Erde, und alle Anstalten Gottes wider uns zeugen, wenn seine Donner sich schon von der Seite her aufmachen, um die aufrüh- terischen
Menſchenliebe des Erlöſers. O warum mögen wir uns doch den Tropfen des Lebens,wenn er ſchön und klar fließt, ſelber ſchwärzen? Tretet oft dorthin, wo das Menſchengeſchlecht in Schichten über Schichten liegt, und erinnert euch, ſo oſt die Luſt zur Welt mächtig werden will, daß das Menſchenleben, wie Blätter am Baum iſt, die der Wind herabwirft. Mit der Farbe der Wangen verlöſcht auch das Feuer, das uns jezt plagt. Was haben wir dann, wenn uns Gold- ſand zwiſchen den Händen zerrinnt, und der Tand der Erde noch über dem Grab ſchwebt, das nach wenigen Jahren zuſammenſinkt, und ſelbſt unter denen, denen es werth ſeyn ſollte, unter denen, die es gebaut haben, vergeſſen wird? Jeder ſtelie ſich ſelber in die Claſſe, zu der er gehört. Der Erlöſer ſpricht niemanden ſeinen guten Willen, ſeinen Anfang, ſein ſtufenweiſes Zuneh- men ab. Gott iſt an unſerm Unglück unſchuldig — das iſt das, was unſer Erlöſer lehren wollte. Eben die Religion, die den Frommen an der Hand haltet, iſt die- ſelbige, die der Spötter ſchmäht, die der Unredliche, wie ein Treuloſer, bald umarmt, bald wegſtößt, und die der Irrdiſchgeſinnte im Gewühl, unter den Sorgen, Reichthum und Wolluſt dieſes Lebens vergißt. Es iſt einerley Saamen, der hier zertreten, dort erſtickt wird, und der hier eine Hand voll Blühten trägt. Das müſſe uns auf die Seele fallen. Gott erbarmt ſich über uns mit unpartheyiſcher Liebe. Wir können alle weiſe und gut werden. Die Menſchheit iſt vortrefflich im Handwerksmann, wie im König. Was werden wir dann einſt antworten, wenn Himmel und Erde, und alle Anſtalten Gottes wider uns zeugen, wenn ſeine Donner ſich ſchon von der Seite her aufmachen, um die aufrüh- teriſchen
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Menſchenliebe des Erlöſers.
O warum mögen wir uns doch den Tropfen des Lebens,
wenn er ſchön und klar fließt, ſelber ſchwärzen? Tretet
oft dorthin, wo das Menſchengeſchlecht in Schichten über
Schichten liegt, und erinnert euch, ſo oſt die Luſt zur
Welt mächtig werden will, daß das Menſchenleben, wie
Blätter am Baum iſt, die der Wind herabwirft. Mit
der Farbe der Wangen verlöſcht auch das Feuer, das uns
jezt plagt. Was haben wir dann, wenn uns Gold-
ſand zwiſchen den Händen zerrinnt, und der Tand der
Erde noch über dem Grab ſchwebt, das nach wenigen
Jahren zuſammenſinkt, und ſelbſt unter denen, denen
es werth ſeyn ſollte, unter denen, die es gebaut haben,
vergeſſen wird? Jeder ſtelie ſich ſelber in die Claſſe, zu
der er gehört. Der Erlöſer ſpricht niemanden ſeinen
guten Willen, ſeinen Anfang, ſein ſtufenweiſes Zuneh-
men ab. Gott iſt an unſerm Unglück unſchuldig —
das iſt das, was unſer Erlöſer lehren wollte. Eben die
Religion, die den Frommen an der Hand haltet, iſt die-
ſelbige, die der Spötter ſchmäht, die der Unredliche, wie
ein Treuloſer, bald umarmt, bald wegſtößt, und die der
Irrdiſchgeſinnte im Gewühl, unter den Sorgen,
Reichthum und Wolluſt dieſes Lebens vergißt.
Es iſt einerley Saamen, der hier zertreten, dort erſtickt
wird, und der hier eine Hand voll Blühten trägt. Das
müſſe uns auf die Seele fallen. Gott erbarmt ſich über
uns mit unpartheyiſcher Liebe. Wir können alle weiſe
und gut werden. Die Menſchheit iſt vortrefflich im
Handwerksmann, wie im König. Was werden wir
dann einſt antworten, wenn Himmel und Erde, und alle
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