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Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783.

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kleine und mit Recht unbewegliche Bettstätten. Zwi-
schen 12. auf dieser und 12. auf jener Seite ist allemahl
ein Durchgang. An den Wänden hinauf stehen ihrer
ebenfalls; so daß ich 150. in dieser Stube zählen konnte.
Die Betten sind alle recht gut, sauber, weis, warm,
nicht zu schwer, und haben alle einen Himmel von weis-
sen Tuch über einem Bogen aufgespannt. An der Wand
hängt ein Gemälde, das die Menschenliebe vorstellt, mit
der passenden Unterschrift: "Mein Vater, und meine
"Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf!"
In einem andern Saal sah ich 6. 8. bis 10jährige Knaben
zu Abend essen. An schmalen Tischen sitzt Kind gegen
Kind, alle essen auf zinnernen Tellern. Es wurden recht
gute, kräftige Suppen und gebratene Hühner aufgetra-
gen. Die Knaben tragen alle schwarze graue Fourreaux
(Kinderkappen) mit Kappen, die unterm Kinn zugebun-
den werden. Sie unterscheiden sich aber durch eine
schwarze Masche, die hinten an der Kappe angenäht ist,
von den eben so gekleideten Mädchen. Einer von den
obersten stand gleich auf, kam auf mich zu, machte mir
im Namen seiner Brüder ein Kompliment, und bat mich,
ihn anzuhören, weil er mich haranguiren wollte. Ich
thats, und er deklamirte allerliebst ein auswendig gelern-
tes Lied und Gebet, das sich auf die Umstände dieser Kin-
der bezog, her, und empfing das kleine Geschenk mit der
artigsten Verbeugung. Andre grössere Knaben warteten
den kleinern auf, und halfen ihnen an der Kleidung überall.
Ohne daß ein Aufseher da war, herrschte überall die schön-
ste Ordnung. Bei den Mädchen fand ichs eben so.
Zuweilen sagte ein kleiner Schalk: O! mon cher Pa-
pa, mon cher Pere etc.
aber sonst war kein Getöse,
kein Lermen. Man sieht mit Ergötzen hier alle mögliche

Phy-

kleine und mit Recht unbewegliche Bettſtaͤtten. Zwi-
ſchen 12. auf dieſer und 12. auf jener Seite iſt allemahl
ein Durchgang. An den Waͤnden hinauf ſtehen ihrer
ebenfalls; ſo daß ich 150. in dieſer Stube zaͤhlen konnte.
Die Betten ſind alle recht gut, ſauber, weis, warm,
nicht zu ſchwer, und haben alle einen Himmel von weiſ-
ſen Tuch uͤber einem Bogen aufgeſpannt. An der Wand
haͤngt ein Gemaͤlde, das die Menſchenliebe vorſtellt, mit
der paſſenden Unterſchrift: „Mein Vater, und meine
„Mutter verlaſſen mich, aber der Herr nimmt mich auf!“
In einem andern Saal ſah ich 6. 8. bis 10jaͤhrige Knaben
zu Abend eſſen. An ſchmalen Tiſchen ſitzt Kind gegen
Kind, alle eſſen auf zinnernen Tellern. Es wurden recht
gute, kraͤftige Suppen und gebratene Huͤhner aufgetra-
gen. Die Knaben tragen alle ſchwarze graue Fourreaux
(Kinderkappen) mit Kappen, die unterm Kinn zugebun-
den werden. Sie unterſcheiden ſich aber durch eine
ſchwarze Maſche, die hinten an der Kappe angenaͤht iſt,
von den eben ſo gekleideten Maͤdchen. Einer von den
oberſten ſtand gleich auf, kam auf mich zu, machte mir
im Namen ſeiner Bruͤder ein Kompliment, und bat mich,
ihn anzuhoͤren, weil er mich haranguiren wollte. Ich
thats, und er deklamirte allerliebſt ein auswendig gelern-
tes Lied und Gebet, das ſich auf die Umſtaͤnde dieſer Kin-
der bezog, her, und empfing das kleine Geſchenk mit der
artigſten Verbeugung. Andre groͤſſere Knaben warteten
den kleinern auf, und halfen ihnen an der Kleidung uͤberall.
Ohne daß ein Aufſeher da war, herrſchte uͤberall die ſchoͤn-
ſte Ordnung. Bei den Maͤdchen fand ichs eben ſo.
Zuweilen ſagte ein kleiner Schalk: O! mon cher Pa-
pa, mon cher Pere etc.
aber ſonſt war kein Getoͤſe,
kein Lermen. Man ſieht mit Ergoͤtzen hier alle moͤgliche

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[240/0264] kleine und mit Recht unbewegliche Bettſtaͤtten. Zwi- ſchen 12. auf dieſer und 12. auf jener Seite iſt allemahl ein Durchgang. An den Waͤnden hinauf ſtehen ihrer ebenfalls; ſo daß ich 150. in dieſer Stube zaͤhlen konnte. Die Betten ſind alle recht gut, ſauber, weis, warm, nicht zu ſchwer, und haben alle einen Himmel von weiſ- ſen Tuch uͤber einem Bogen aufgeſpannt. An der Wand haͤngt ein Gemaͤlde, das die Menſchenliebe vorſtellt, mit der paſſenden Unterſchrift: „Mein Vater, und meine „Mutter verlaſſen mich, aber der Herr nimmt mich auf!“ In einem andern Saal ſah ich 6. 8. bis 10jaͤhrige Knaben zu Abend eſſen. An ſchmalen Tiſchen ſitzt Kind gegen Kind, alle eſſen auf zinnernen Tellern. Es wurden recht gute, kraͤftige Suppen und gebratene Huͤhner aufgetra- gen. Die Knaben tragen alle ſchwarze graue Fourreaux (Kinderkappen) mit Kappen, die unterm Kinn zugebun- den werden. Sie unterſcheiden ſich aber durch eine ſchwarze Maſche, die hinten an der Kappe angenaͤht iſt, von den eben ſo gekleideten Maͤdchen. Einer von den oberſten ſtand gleich auf, kam auf mich zu, machte mir im Namen ſeiner Bruͤder ein Kompliment, und bat mich, ihn anzuhoͤren, weil er mich haranguiren wollte. Ich thats, und er deklamirte allerliebſt ein auswendig gelern- tes Lied und Gebet, das ſich auf die Umſtaͤnde dieſer Kin- der bezog, her, und empfing das kleine Geſchenk mit der artigſten Verbeugung. Andre groͤſſere Knaben warteten den kleinern auf, und halfen ihnen an der Kleidung uͤberall. Ohne daß ein Aufſeher da war, herrſchte uͤberall die ſchoͤn- ſte Ordnung. Bei den Maͤdchen fand ichs eben ſo. Zuweilen ſagte ein kleiner Schalk: O! mon cher Pa- pa, mon cher Pere etc. aber ſonſt war kein Getoͤſe, kein Lermen. Man ſieht mit Ergoͤtzen hier alle moͤgliche Phy-

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/264>, abgerufen am 22.11.2024.