hundertmahl gesehen, setzen sich so hart so eng auf einen hinauf, daß man der Einladungen endlich überdrüssig wird. Sie küssen nach dem Tanz den Mannspersonen die Hand, klopfen einen sanft auf den Backen etc. J'ai faim des garcons, sagte unter andern eine, und viele andre garstige Ausbrüche der Frechheit und der gröbsten Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefühl und keinen Funken von Menschenfreundschaft haben, wenn man hier selber leichtsinnig werden will. Ich wuste nicht, was ich denken, was ich sagen sollte. -- Es war ein junges Weibsbild da, das schon 2. Kinder gehabt hatte, wie sie selber sagte, und durch den frühen Mißbrauch an Ver- stand und Sinnen, für mich zur niederschlagenden Be- stätigung der Tissotschen Wahrnehmungen, geschwächt war. Sie sah an Händen und im Gesicht so mager, so abgezehrt, und bleich aus, daß man sie für 60jährig hätte halten sollen. In ihren Augen, womit sie noch spielen wolte, war ein mattes, verloschenes Feuer, -- ganz das klägliche Bild von den Strafen, womit die Natur züchtigt, -- und doch noch immer ein Herz voll unersättlicher Lüsternheit, vielleicht ohne die geringste Anlage zur mora- lischen Besserung. Man durfte sie nur ansehen, wenn man ernsthaft bleiben wolte. Aber so gros, so zügellos ist die Wildheit hier, daß ich wenigstens sechs kleine jun- ge Mädchen von 11. -- 12. Jahren bemerken konnte, die schon jetzt zu eben diesen traurigen Bestimmungen ge- bildet wurden. So vielen lastbaren Thieren, die den ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durst be- ständig den Willen andrer Menschen thun, und die schlechtesten Dienste, so lang sie leben, verrichten müssen, möchte man wohl Tanz und Freiheit gönnen; aber sollte nicht die Polizei Aufsicht auf diese Plätze der Belustigung
tragen,
hundertmahl geſehen, ſetzen ſich ſo hart ſo eng auf einen hinauf, daß man der Einladungen endlich uͤberdruͤſſig wird. Sie kuͤſſen nach dem Tanz den Mannsperſonen die Hand, klopfen einen ſanft auf den Backen ꝛc. J’ai faim des garçons, ſagte unter andern eine, und viele andre garſtige Ausbruͤche der Frechheit und der groͤbſten Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefuͤhl und keinen Funken von Menſchenfreundſchaft haben, wenn man hier ſelber leichtſinnig werden will. Ich wuſte nicht, was ich denken, was ich ſagen ſollte. — Es war ein junges Weibsbild da, das ſchon 2. Kinder gehabt hatte, wie ſie ſelber ſagte, und durch den fruͤhen Mißbrauch an Ver- ſtand und Sinnen, fuͤr mich zur niederſchlagenden Be- ſtaͤtigung der Tiſſotſchen Wahrnehmungen, geſchwaͤcht war. Sie ſah an Haͤnden und im Geſicht ſo mager, ſo abgezehrt, und bleich aus, daß man ſie fuͤr 60jaͤhrig haͤtte halten ſollen. In ihren Augen, womit ſie noch ſpielen wolte, war ein mattes, verloſchenes Feuer, — ganz das klaͤgliche Bild von den Strafen, womit die Natur zuͤchtigt, — und doch noch immer ein Herz voll unerſaͤttlicher Luͤſternheit, vielleicht ohne die geringſte Anlage zur mora- liſchen Beſſerung. Man durfte ſie nur anſehen, wenn man ernſthaft bleiben wolte. Aber ſo gros, ſo zuͤgellos iſt die Wildheit hier, daß ich wenigſtens ſechs kleine jun- ge Maͤdchen von 11. — 12. Jahren bemerken konnte, die ſchon jetzt zu eben dieſen traurigen Beſtimmungen ge- bildet wurden. So vielen laſtbaren Thieren, die den ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durſt be- ſtaͤndig den Willen andrer Menſchen thun, und die ſchlechteſten Dienſte, ſo lang ſie leben, verrichten muͤſſen, moͤchte man wohl Tanz und Freiheit goͤnnen; aber ſollte nicht die Polizei Aufſicht auf dieſe Plaͤtze der Beluſtigung
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hundertmahl geſehen, ſetzen ſich ſo hart ſo eng auf einen
hinauf, daß man der Einladungen endlich uͤberdruͤſſig
wird. Sie kuͤſſen nach dem Tanz den Mannsperſonen
die Hand, klopfen einen ſanft auf den Backen ꝛc. J’ai
faim des garçons, ſagte unter andern eine, und viele
andre garſtige Ausbruͤche der Frechheit und der groͤbſten
Sauerei mehr. Man muß gar kein Gefuͤhl und keinen
Funken von Menſchenfreundſchaft haben, wenn man hier
ſelber leichtſinnig werden will. Ich wuſte nicht, was ich
denken, was ich ſagen ſollte. — Es war ein junges
Weibsbild da, das ſchon 2. Kinder gehabt hatte, wie ſie
ſelber ſagte, und durch den fruͤhen Mißbrauch an Ver-
ſtand und Sinnen, fuͤr mich zur niederſchlagenden Be-
ſtaͤtigung der Tiſſotſchen Wahrnehmungen, geſchwaͤcht
war. Sie ſah an Haͤnden und im Geſicht ſo mager,
ſo abgezehrt, und bleich aus, daß man ſie fuͤr 60jaͤhrig
haͤtte halten ſollen. In ihren Augen, womit ſie noch
ſpielen wolte, war ein mattes, verloſchenes Feuer, — ganz
das klaͤgliche Bild von den Strafen, womit die Natur
zuͤchtigt, — und doch noch immer ein Herz voll unerſaͤttlicher
Luͤſternheit, vielleicht ohne die geringſte Anlage zur mora-
liſchen Beſſerung. Man durfte ſie nur anſehen, wenn
man ernſthaft bleiben wolte. Aber ſo gros, ſo zuͤgellos
iſt die Wildheit hier, daß ich wenigſtens ſechs kleine jun-
ge Maͤdchen von 11. — 12. Jahren bemerken konnte,
die ſchon jetzt zu eben dieſen traurigen Beſtimmungen ge-
bildet wurden. So vielen laſtbaren Thieren, die den
ganzen Tag in der Stadt unter Hunger und Durſt be-
ſtaͤndig den Willen andrer Menſchen thun, und die
ſchlechteſten Dienſte, ſo lang ſie leben, verrichten muͤſſen,
moͤchte man wohl Tanz und Freiheit goͤnnen; aber ſollte
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]
Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird dessen Reisebeschreibung veröffentlicht. Es handelt sich dabei um ein druckfertiges Manuskript aus dem Nachlass, welches Sanders Vater dem Verleger Friedrich Gotthold Jacobäer zur Verfügung stellte. Nach dem Vorbericht des Herausgebers wurden nur einige wenige Schreibfehler berichtigt (siehe dazu den Vorbericht des Herausgebers des ersten Bandes, Faksimile 0019f.).
Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 1. Leipzig, 1783, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung01_1783/162>, abgerufen am 21.11.2024.
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