Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite
IV.

Ein Auszug aus Zimmermanns vor-
treflichen Buche über die Einsamkeit.

Gegen seine religiöse Melancholie suchte
er Hülfe durch sein Gebet. Aber dann fiel
ihm immer dabey ein, für ihn sey Beten ein
Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al-
lergleichgültigste Handlung zu beleidigen;
zum Exempel, wenn er ausspuckte. Alles,
wovon er sich einbildete, dass es Sünde seyn
könnte, so toll auch der Gedanke war, hielt
er faur Sünde. Vor dem Beichtstuhl fand er es
nataurlicher Weise unmöglich, seines ganzen
Sündenheers sich zu erinnern, und es dem
Beichtvater so darzustellen, wie es in der ka-
tholischen Kirche Sitte und Pflicht ist. Kaum
hatte er ausgebeichtet, so fiel ihm immer wie-
der eine unabsehbare Reihe von Sünden ein,
und so gieng er den andern Tag wieder zum
Beichtvater, wie ein Hypochondrist, der ei-
nem Arzte seinen Zustand schon mit der über-
flüssigsten Ausführlichkeit geschildert hat, an
seinen Brief noch immer hundert Postscripte
haengt.

Einsamkeit wirkte bey ihm schrecklich.

Tage-
IV.

Ein Auszug aus Zimmermanns vor-
treflichen Buche über die Einſamkeit.

Gegen ſeine religiöſe Melancholie ſuchte
er Hülfe durch ſein Gebet. Aber dann fiel
ihm immer dabey ein, für ihn ſey Beten ein
Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al-
lergleichgültigſte Handlung zu beleidigen;
zum Exempel, wenn er ausſpuckte. Alles,
wovon er ſich einbildete, daſs es Sünde ſeyn
könnte, ſo toll auch der Gedanke war, hielt
er fûr Sünde. Vor dem Beichtſtuhl fand er es
natûrlicher Weiſe unmöglich, ſeines ganzen
Sündenheers ſich zu erinnern, und es dem
Beichtvater ſo darzuſtellen, wie es in der ka-
tholiſchen Kirche Sitte und Pflicht iſt. Kaum
hatte er ausgebeichtet, ſo fiel ihm immer wie-
der eine unabſehbare Reihe von Sünden ein,
und ſo gieng er den andern Tag wieder zum
Beichtvater, wie ein Hypochondriſt, der ei-
nem Arzte ſeinen Zuſtand ſchon mit der über-
flüſſigſten Ausführlichkeit geſchildert hat, an
ſeinen Brief noch immer hundert Poſtſcripte
hængt.

Einſamkeit wirkte bey ihm ſchrecklich.

Tage-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0094" n="84"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">IV.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p>Ein Auszug aus Zimmermanns vor-<lb/>
treflichen Buche über die Ein&#x017F;amkeit.</p><lb/>
            <p>Gegen &#x017F;eine religiö&#x017F;e Melancholie &#x017F;uchte<lb/>
er Hülfe durch &#x017F;ein Gebet. Aber dann fiel<lb/>
ihm immer dabey ein, für ihn &#x017F;ey Beten ein<lb/>
Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al-<lb/>
lergleichgültig&#x017F;te Handlung zu beleidigen;<lb/>
zum Exempel, wenn er aus&#x017F;puckte. Alles,<lb/>
wovon er &#x017F;ich einbildete, da&#x017F;s es Sünde &#x017F;eyn<lb/>
könnte, &#x017F;o toll auch der Gedanke war, hielt<lb/>
er fûr Sünde. Vor dem Beicht&#x017F;tuhl fand er es<lb/>
natûrlicher Wei&#x017F;e unmöglich, &#x017F;eines ganzen<lb/>
Sündenheers &#x017F;ich zu erinnern, und es dem<lb/>
Beichtvater &#x017F;o darzu&#x017F;tellen, wie es in der ka-<lb/>
tholi&#x017F;chen Kirche Sitte und Pflicht i&#x017F;t. Kaum<lb/>
hatte er ausgebeichtet, &#x017F;o fiel ihm immer wie-<lb/>
der eine unab&#x017F;ehbare Reihe von Sünden ein,<lb/>
und &#x017F;o gieng er den andern Tag wieder zum<lb/>
Beichtvater, wie ein Hypochondri&#x017F;t, der ei-<lb/>
nem Arzte &#x017F;einen Zu&#x017F;tand &#x017F;chon mit der über-<lb/>
flü&#x017F;&#x017F;ig&#x017F;ten Ausführlichkeit ge&#x017F;childert hat, an<lb/>
&#x017F;einen Brief noch immer hundert Po&#x017F;t&#x017F;cripte<lb/>
hængt.</p><lb/>
            <p>Ein&#x017F;amkeit wirkte bey ihm &#x017F;chrecklich.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Tage-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[84/0094] IV. Ein Auszug aus Zimmermanns vor- treflichen Buche über die Einſamkeit. Gegen ſeine religiöſe Melancholie ſuchte er Hülfe durch ſein Gebet. Aber dann fiel ihm immer dabey ein, für ihn ſey Beten ein Verbrechen. Er glaubte, Gott durch die al- lergleichgültigſte Handlung zu beleidigen; zum Exempel, wenn er ausſpuckte. Alles, wovon er ſich einbildete, daſs es Sünde ſeyn könnte, ſo toll auch der Gedanke war, hielt er fûr Sünde. Vor dem Beichtſtuhl fand er es natûrlicher Weiſe unmöglich, ſeines ganzen Sündenheers ſich zu erinnern, und es dem Beichtvater ſo darzuſtellen, wie es in der ka- tholiſchen Kirche Sitte und Pflicht iſt. Kaum hatte er ausgebeichtet, ſo fiel ihm immer wie- der eine unabſehbare Reihe von Sünden ein, und ſo gieng er den andern Tag wieder zum Beichtvater, wie ein Hypochondriſt, der ei- nem Arzte ſeinen Zuſtand ſchon mit der über- flüſſigſten Ausführlichkeit geſchildert hat, an ſeinen Brief noch immer hundert Poſtſcripte hængt. Einſamkeit wirkte bey ihm ſchrecklich. Tage-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785/94
Zitationshilfe: Salzmann, Christian Gotthilf: Ueber die heimlichen Sünden der Jugend. Leipzig, 1785, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/salzmann_suenden_1785/94>, abgerufen am 24.11.2024.