Es ist itzt nicht mein Beruf, die Wahrheit dieser letzten Vorstellung zu erwei- sen; ich sage nur: wenn die menschenfreund- lichsten Vorstellungen gerade die wahrsten sind, so fühle ich hierinn eine Harmonie, die der Würde der Menschennatur Ehre macht. Ich sage nur: wer an die Un- sterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen Grund wider den Selbstmord mehr; kann in jeder Nacht dieses Lebens einen Lichtpunct finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif- lung wegleitet; kann sich nicht nur den Be- griff von dem Werthe dieses Lebens unend- lich erweitern, sondern auch das sterbende Gefühl davon, immer wieder neu beleben. Ich sage nur: nichts scheuchet den Gedanken an Selbstentleibung mächtiger zurück, als ein Blick auf die Würde des Menschen, und was ist die Würde des Menschen, wenn nach einem paar schwüler Tage, das man Leben nennet, der ganze Mensch modert? Ich sage nur, daß die Unsterblichkeit dem Menschenleben einen unermeßlichen Werth giebt, und daß sich der Vernünftige doch zweymal besinnen wird, dieß sein Leben
wegzu-
Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es iſt itzt nicht mein Beruf, die Wahrheit dieſer letzten Vorſtellung zu erwei- ſen; ich ſage nur: wenn die menſchenfreund- lichſten Vorſtellungen gerade die wahrſten ſind, ſo fuͤhle ich hierinn eine Harmonie, die der Wuͤrde der Menſchennatur Ehre macht. Ich ſage nur: wer an die Un- ſterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen Grund wider den Selbſtmord mehr; kann in jeder Nacht dieſes Lebens einen Lichtpunct finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif- lung wegleitet; kann ſich nicht nur den Be- griff von dem Werthe dieſes Lebens unend- lich erweitern, ſondern auch das ſterbende Gefuͤhl davon, immer wieder neu beleben. Ich ſage nur: nichts ſcheuchet den Gedanken an Selbſtentleibung maͤchtiger zuruͤck, als ein Blick auf die Wuͤrde des Menſchen, und was iſt die Wuͤrde des Menſchen, wenn nach einem paar ſchwuͤler Tage, das man Leben nennet, der ganze Menſch modert? Ich ſage nur, daß die Unſterblichkeit dem Menſchenleben einen unermeßlichen Werth giebt, und daß ſich der Vernuͤnftige doch zweymal beſinnen wird, dieß ſein Leben
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Gruͤnde wider den Selbſtmord.
Es iſt itzt nicht mein Beruf, die
Wahrheit dieſer letzten Vorſtellung zu erwei-
ſen; ich ſage nur: wenn die menſchenfreund-
lichſten Vorſtellungen gerade die wahrſten
ſind, ſo fuͤhle ich hierinn eine Harmonie,
die der Wuͤrde der Menſchennatur Ehre
macht. Ich ſage nur: wer an die Un-
ſterblichkeit glaubt, hat um einen wichtigen
Grund wider den Selbſtmord mehr; kann
in jeder Nacht dieſes Lebens einen Lichtpunct
finden, der ihn vom Abgrunde der Verzweif-
lung wegleitet; kann ſich nicht nur den Be-
griff von dem Werthe dieſes Lebens unend-
lich erweitern, ſondern auch das ſterbende
Gefuͤhl davon, immer wieder neu beleben.
Ich ſage nur: nichts ſcheuchet den Gedanken
an Selbſtentleibung maͤchtiger zuruͤck, als
ein Blick auf die Wuͤrde des Menſchen, und
was iſt die Wuͤrde des Menſchen, wenn
nach einem paar ſchwuͤler Tage, das man
Leben nennet, der ganze Menſch modert?
Ich ſage nur, daß die Unſterblichkeit dem
Menſchenleben einen unermeßlichen Werth
giebt, und daß ſich der Vernuͤnftige doch
zweymal beſinnen wird, dieß ſein Leben
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Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/59>, abgerufen am 16.07.2024.
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