Meere von Leiden an, dessen Anblick die kranke Seele nicht mehr ertragen kann -- und so stürzt das runde Steinchen, das vom Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol- lung neue Kräfte gewinnt, -- am Fuße des Berges die Statue des Lebens nieder. Wehe, wehe, die schöne, feste Statue, sie ist nicht mehr!
So ists mit jedem Leiden, wodurch das Gefühl von dem Werthe des Lebens nach und nach aus der Seele des Leidenden verdrängt, und die Empfindung von der Lästigkeit des Lebens erzeuget, gestärkt, er- höhet wird: bis der Entschluß aufwacht, die Last wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu vollziehen.
Das ist die Geschichte der Krankheit. Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver- theidigern des Selbstmordes zulasse, was ich denselben, ohne die Rechte der Wahrheit zu kränken, zulassen kann. Aber itzt darf ich doch auch die ganze Wahrheit sagen? Nicht wahr, wer der ersten Empfindung, "Das Leben eine Last", mächtig entge-
gen
Erſter Abſchnitt.
Meere von Leiden an, deſſen Anblick die kranke Seele nicht mehr ertragen kann — und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol- lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße des Berges die Statue des Lebens nieder. Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue, ſie iſt nicht mehr!
So iſts mit jedem Leiden, wodurch das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens nach und nach aus der Seele des Leidenden verdraͤngt, und die Empfindung von der Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er- hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu vollziehen.
Das iſt die Geſchichte der Krankheit. Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver- theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen? Nicht wahr, wer der erſten Empfindung, „Das Leben eine Laſt“, maͤchtig entge-
gen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0048"n="36"/><fwplace="top"type="header">Erſter Abſchnitt.</fw><lb/>
Meere von Leiden an, deſſen Anblick die<lb/>
kranke Seele nicht mehr ertragen kann —<lb/>
und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom<lb/>
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-<lb/>
lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße<lb/>
des Berges die Statue des Lebens nieder.<lb/>
Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue,<lb/>ſie iſt nicht mehr!</p><lb/><p>So iſts mit jedem Leiden, wodurch<lb/>
das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens<lb/>
nach und nach aus der Seele des Leidenden<lb/>
verdraͤngt, und die Empfindung von der<lb/>
Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er-<lb/>
hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die<lb/>
Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu<lb/>
vollziehen.</p><lb/><p>Das iſt die Geſchichte der Krankheit.<lb/>
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-<lb/>
theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was<lb/>
ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit<lb/>
zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf<lb/>
ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen?<lb/>
Nicht wahr, wer der erſten Empfindung,<lb/><hirendition="#fr">„Das Leben eine Laſt“,</hi> maͤchtig entge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[36/0048]
Erſter Abſchnitt.
Meere von Leiden an, deſſen Anblick die
kranke Seele nicht mehr ertragen kann —
und ſo ſtuͤrzt das runde Steinchen, das vom
Berge herunterrollt, und mit jeder Umrol-
lung neue Kraͤfte gewinnt, — am Fuße
des Berges die Statue des Lebens nieder.
Wehe, wehe, die ſchoͤne, feſte Statue,
ſie iſt nicht mehr!
So iſts mit jedem Leiden, wodurch
das Gefuͤhl von dem Werthe des Lebens
nach und nach aus der Seele des Leidenden
verdraͤngt, und die Empfindung von der
Laͤſtigkeit des Lebens erzeuget, geſtaͤrkt, er-
hoͤhet wird: bis der Entſchluß aufwacht, die
Laſt wegzuwerfen, und der Muth, ihn zu
vollziehen.
Das iſt die Geſchichte der Krankheit.
Sehet, meine Freunde, wie ich den Ver-
theidigern des Selbſtmordes zulaſſe, was
ich denſelben, ohne die Rechte der Wahrheit
zu kraͤnken, zulaſſen kann. Aber itzt darf
ich doch auch die ganze Wahrheit ſagen?
Nicht wahr, wer der erſten Empfindung,
„Das Leben eine Laſt“, maͤchtig entge-
gen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sailer, Johann Michael: Über den Selbstmord. München, 1785, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_selbstmord_1785/48>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.