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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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Kraft zu glauben: so muss sie entweder das Gutwer-
den
für unmöglich, und also die Foderungen des Evan-
geliums und selbst der menschlichen Natur für über-
spannt
, oder die menschlichen Mühungen, gut zu wer-
den, aus einer an sich vermeidlichen Täuschung, für
lauteres Gutseyn halten, oder endlich im Streben nach
Gutseyn verzweifelnd unterliegen. Da nun das Erste
mit der Idee des reinen Gutseyns, die wir in uns ha-
ben, streitet, und das Evangelium und selbst das reine
Gesetz in unsrer Natur entehret; das Zweyte als Täu-
schung, der Vernunft wenigst keine Ehre macht, und
das Letzte den Zweck aller Moral vereitelt: so bleibt
der nüchternen Vernunft nichts übrig, als mit den hei-
ligen Aposteln -- thun, was Menschen können, und das,
was Menschen nicht können, von der Allmacht gläu-
big begehren und demüthig annehmen. Diess ist der
Glaube der ganzen christlichen Kirche von Gnade,
heiligem Geist u. s. f. Ueber Worte und über das
Wie zankt kein Vernünftiger, der weiss, was er
thut.

Hier löset sich auch die Frage: ob die Moral
Jesu für die Menschen unserer oder anderer Zeiten,
zu sublim sey oder nicht? Sie ist zu sublim, und nicht
zu sublim
. Zu sublim ohne seinen Geist; nicht zu
sublim mit seinem Geist. Hieraus erhellet es auch,
dass die Moral Jesu predigen, und zugleich die Men-
schen von dem Geiste Jesu wegführen, nicht mehr
und nicht weniger sey, als: Dem Lahmen die Pflicht
zu gehen, nachdrucksam einschärfen, ohne die kranken
Beine zu heilen, oder ihn an den Arzt zu weisen
.

Die

Kraft zu glauben: ſo muſs ſie entweder das Gutwer-
den
für unmöglich, und alſo die Foderungen des Evan-
geliums und ſelbſt der menſchlichen Natur für über-
ſpannt
, oder die menſchlichen Mühungen, gut zu wer-
den, aus einer an ſich vermeidlichen Täuſchung, für
lauteres Gutſeyn halten, oder endlich im Streben nach
Gutſeyn verzweifelnd unterliegen. Da nun das Erſte
mit der Idee des reinen Gutſeyns, die wir in uns ha-
ben, ſtreitet, und das Evangelium und ſelbſt das reine
Geſetz in unſrer Natur entehret; das Zweyte als Täu-
ſchung, der Vernunft wenigſt keine Ehre macht, und
das Letzte den Zweck aller Moral vereitelt: ſo bleibt
der nüchternen Vernunft nichts übrig, als mit den hei-
ligen Apoſteln — thun, was Menſchen können, und das,
was Menſchen nicht können, von der Allmacht gläu-
big begehren und demüthig annehmen. Dieſs iſt der
Glaube der ganzen chriſtlichen Kirche von Gnade,
heiligem Geiſt u. ſ. f. Ueber Worte und über das
Wie zankt kein Vernünftiger, der weiſs, was er
thut.

Hier löſet ſich auch die Frage: ob die Moral
Jeſu für die Menſchen unſerer oder anderer Zeiten,
zu ſublim ſey oder nicht? Sie iſt zu ſublim, und nicht
zu ſublim
. Zu ſublim ohne ſeinen Geiſt; nicht zu
ſublim mit ſeinem Geiſt. Hieraus erhellet es auch,
daſs die Moral Jeſu predigen, und zugleich die Men-
ſchen von dem Geiſte Jeſu wegführen, nicht mehr
und nicht weniger ſey, als: Dem Lahmen die Pflicht
zu gehen, nachdruckſam einſchärfen, ohne die kranken
Beine zu heilen, oder ihn an den Arzt zu weiſen
.

Die
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[58/0072] Kraft zu glauben: ſo muſs ſie entweder das Gutwer- den für unmöglich, und alſo die Foderungen des Evan- geliums und ſelbſt der menſchlichen Natur für über- ſpannt, oder die menſchlichen Mühungen, gut zu wer- den, aus einer an ſich vermeidlichen Täuſchung, für lauteres Gutſeyn halten, oder endlich im Streben nach Gutſeyn verzweifelnd unterliegen. Da nun das Erſte mit der Idee des reinen Gutſeyns, die wir in uns ha- ben, ſtreitet, und das Evangelium und ſelbſt das reine Geſetz in unſrer Natur entehret; das Zweyte als Täu- ſchung, der Vernunft wenigſt keine Ehre macht, und das Letzte den Zweck aller Moral vereitelt: ſo bleibt der nüchternen Vernunft nichts übrig, als mit den hei- ligen Apoſteln — thun, was Menſchen können, und das, was Menſchen nicht können, von der Allmacht gläu- big begehren und demüthig annehmen. Dieſs iſt der Glaube der ganzen chriſtlichen Kirche von Gnade, heiligem Geiſt u. ſ. f. Ueber Worte und über das Wie zankt kein Vernünftiger, der weiſs, was er thut. Hier löſet ſich auch die Frage: ob die Moral Jeſu für die Menſchen unſerer oder anderer Zeiten, zu ſublim ſey oder nicht? Sie iſt zu ſublim, und nicht zu ſublim. Zu ſublim ohne ſeinen Geiſt; nicht zu ſublim mit ſeinem Geiſt. Hieraus erhellet es auch, daſs die Moral Jeſu predigen, und zugleich die Men- ſchen von dem Geiſte Jeſu wegführen, nicht mehr und nicht weniger ſey, als: Dem Lahmen die Pflicht zu gehen, nachdruckſam einſchärfen, ohne die kranken Beine zu heilen, oder ihn an den Arzt zu weiſen. Die

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/72>, abgerufen am 29.03.2024.