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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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und lässt sie antworten, aber nur das, was die reine
Natur antworten würde, wenn sie aus ihnen spräche,
Er verwirft nicht, was man kühne Wendungen, stark-
tressende Bilder, schöne Gemälde nennt, aber alle diese
Schönheiten müssen jenen der Baukunst gleichen, die
die wesentlichen Bestandtheile eines Gebäudes zu den
Zieraten desselben macht.

Um den Verstand zu überzeugen, ist der Redner
ein geordneter Kopf, ein wahrer Wahrheitsfreund,
der keine Schönheit, als die Wahrheit kennt; der die
Grundsätze in ihren rechten Gesichtspunkt stellt; der
von diesem Gesichtspunkte, als dem Mittelpunkte aus,
Licht in die ganze Rede ausfliessen lässt; der jede
Wahrheit an ihre Stelle setzt, von der aus eine die an-
dere vorbereiten, eine die andere unterstützen hilft;
der endlich aus allen Wahrheiten Ein schönes Ganze
zu machen weiss.

Um das Herz einzunehmen, einiget er klare
Vorstellungen mit edlen Empfindungen. Er kennt das
menschliche Herz und alle Triebfedern, die es in Be-
wegung setzen; er ist durchdrungen von all dem, wo-
von er andere überzeugen will; er lässt das Herz zum
Herzen reden, indess der Verstand -- zu dem Verstan-
de spricht; die Liebe zum Wahren und Grossen beseelt,
erhebt, entzückt den Redner, dass er seiner selbst ver-
gessen -- sich gleichsam unsichtbar machen kann, um
nur die Wahrheit und Tugend sichtbar zu machen.

Diess sind die Kennzeichen der wahren Beredsam-
keit: wer sie kennt, kennt eben darum auch die falsche.

Fern

und läſst ſie antworten, aber nur das, was die reine
Natur antworten würde, wenn ſie aus ihnen ſpräche,
Er verwirft nicht, was man kühne Wendungen, ſtark-
treſſende Bilder, ſchöne Gemälde nennt, aber alle dieſe
Schönheiten müſſen jenen der Baukunſt gleichen, die
die weſentlichen Beſtandtheile eines Gebäudes zu den
Zieraten deſſelben macht.

Um den Verſtand zu überzeugen, iſt der Redner
ein geordneter Kopf, ein wahrer Wahrheitsfreund,
der keine Schönheit, als die Wahrheit kennt; der die
Grundſätze in ihren rechten Geſichtspunkt ſtellt; der
von dieſem Geſichtspunkte, als dem Mittelpunkte aus,
Licht in die ganze Rede ausflieſsen läſst; der jede
Wahrheit an ihre Stelle ſetzt, von der aus eine die an-
dere vorbereiten, eine die andere unterſtützen hilft;
der endlich aus allen Wahrheiten Ein ſchönes Ganze
zu machen weiſs.

Um das Herz einzunehmen, einiget er klare
Vorſtellungen mit edlen Empfindungen. Er kennt das
menſchliche Herz und alle Triebfedern, die es in Be-
wegung ſetzen; er iſt durchdrungen von all dem, wo-
von er andere überzeugen will; er läſst das Herz zum
Herzen reden, indeſs der Verſtand — zu dem Verſtan-
de ſpricht; die Liebe zum Wahren und Groſſen beſeelt,
erhebt, entzückt den Redner, daſs er ſeiner ſelbſt ver-
geſſen — ſich gleichſam unſichtbar machen kann, um
nur die Wahrheit und Tugend ſichtbar zu machen.

Dieſs ſind die Kennzeichen der wahren Beredſam-
keit: wer ſie kennt, kennt eben darum auch die falſche.

Fern
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[48/0062] und läſst ſie antworten, aber nur das, was die reine Natur antworten würde, wenn ſie aus ihnen ſpräche, Er verwirft nicht, was man kühne Wendungen, ſtark- treſſende Bilder, ſchöne Gemälde nennt, aber alle dieſe Schönheiten müſſen jenen der Baukunſt gleichen, die die weſentlichen Beſtandtheile eines Gebäudes zu den Zieraten deſſelben macht. Um den Verſtand zu überzeugen, iſt der Redner ein geordneter Kopf, ein wahrer Wahrheitsfreund, der keine Schönheit, als die Wahrheit kennt; der die Grundſätze in ihren rechten Geſichtspunkt ſtellt; der von dieſem Geſichtspunkte, als dem Mittelpunkte aus, Licht in die ganze Rede ausflieſsen läſst; der jede Wahrheit an ihre Stelle ſetzt, von der aus eine die an- dere vorbereiten, eine die andere unterſtützen hilft; der endlich aus allen Wahrheiten Ein ſchönes Ganze zu machen weiſs. Um das Herz einzunehmen, einiget er klare Vorſtellungen mit edlen Empfindungen. Er kennt das menſchliche Herz und alle Triebfedern, die es in Be- wegung ſetzen; er iſt durchdrungen von all dem, wo- von er andere überzeugen will; er läſst das Herz zum Herzen reden, indeſs der Verſtand — zu dem Verſtan- de ſpricht; die Liebe zum Wahren und Groſſen beſeelt, erhebt, entzückt den Redner, daſs er ſeiner ſelbſt ver- geſſen — ſich gleichſam unſichtbar machen kann, um nur die Wahrheit und Tugend ſichtbar zu machen. Dieſs ſind die Kennzeichen der wahren Beredſam- keit: wer ſie kennt, kennt eben darum auch die falſche. Fern

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/62>, abgerufen am 29.03.2024.