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Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

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drücken? wenn wir das Geringste nicht darangeben, wie
werden wir das Gröste opfern? Wem übrigens ein
ästhetisches Blümlein lieber ist, als das göttliche Evan-
gelium, mit dem will ich nicht zanken; noch weniger
will ich aem eine Apologie halten, welcher die niedrig-
ste Gassensprache auf die Kanzel bringt, nicht um ver-
standen zu werden; denn diese Sprache ist auch dem
Volke zu nieder, sondern um sich die Mühe der Vor-
bereitung zu ersparen. Aber, wenn gebildete Männer
unter dem Volkshaufen sitzen? -- Antwort:

Kann der gebildete Mann über den Werth deiner
Predigt urtheilen: so wird er wissen, dass mehr Ver-
stand
, und oft auch mehr Sprachkenntniss dazu gehöre,
sich mit Würde zu dem niedern Kreise des Volkes her-
unterzulassen, als das Volk in eine Staubwolke unver-
standner Ausdrücke einzuhüllen, und mit sich auf eine
schwindelmachende Höhe fortzureissen. Kann er aber
nicht urtheilen, so wäre es eine unverzeihliche Thor-
heit für einen Boten der Wahrheit, die Wahrheit zu
verdunkeln, und das hungrige Volk ohne Nahrung zu
lassen -- um den Beyfall des Unverständigen einzuärn-
ten. Ist der gebildete Mann -- edel genug, dem Pre-
diger zuzuhören, nicht um den Prediger, sondern um
sich zu richten: so wird ihm die einfältige Wahrheit,
ohne Schmink -- lieber seyn, als aller Redeprunk, der
mit dem Schalle wie Wind dahin ist. Hört aber der
gebildete Mann nur desshalb der Predigt zu, um nach
A -- oder B -- eine Predigtcenfur einzusenden: so den-
ke du an die Freudenthräne der Wittwe, die ihr
bey dem klaren Worte aus deinem Munde, ins Auge

tritt,

drücken? wenn wir das Geringſte nicht darangeben, wie
werden wir das Gröſte opfern? Wem übrigens ein
äſthetiſches Blümlein lieber iſt, als das göttliche Evan-
gelium, mit dem will ich nicht zanken; noch weniger
will ich aem eine Apologie halten, welcher die niedrig-
ſte Gaſſenſprache auf die Kanzel bringt, nicht um ver-
ſtanden zu werden; denn dieſe Sprache iſt auch dem
Volke zu nieder, ſondern um ſich die Mühe der Vor-
bereitung zu erſparen. Aber, wenn gebildete Männer
unter dem Volkshaufen ſitzen? — Antwort:

Kann der gebildete Mann über den Werth deiner
Predigt urtheilen: ſo wird er wiſſen, daſs mehr Ver-
ſtand
, und oft auch mehr Sprachkenntniſs dazu gehöre,
ſich mit Würde zu dem niedern Kreiſe des Volkes her-
unterzulaſſen, als das Volk in eine Staubwolke unver-
ſtandner Ausdrücke einzuhüllen, und mit ſich auf eine
ſchwindelmachende Höhe fortzureiſſen. Kann er aber
nicht urtheilen, ſo wäre es eine unverzeihliche Thor-
heit für einen Boten der Wahrheit, die Wahrheit zu
verdunkeln, und das hungrige Volk ohne Nahrung zu
laſſen — um den Beyfall des Unverſtändigen einzuärn-
ten. Iſt der gebildete Mann — edel genug, dem Pre-
diger zuzuhören, nicht um den Prediger, ſondern um
ſich zu richten: ſo wird ihm die einfältige Wahrheit,
ohne Schmink — lieber ſeyn, als aller Redeprunk, der
mit dem Schalle wie Wind dahin iſt. Hört aber der
gebildete Mann nur deſshalb der Predigt zu, um nach
A — oder B — eine Predigtcenfur einzuſenden: ſo den-
ke du an die Freudenthräne der Wittwe, die ihr
bey dem klaren Worte aus deinem Munde, ins Auge

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[40/0054] drücken? wenn wir das Geringſte nicht darangeben, wie werden wir das Gröſte opfern? Wem übrigens ein äſthetiſches Blümlein lieber iſt, als das göttliche Evan- gelium, mit dem will ich nicht zanken; noch weniger will ich aem eine Apologie halten, welcher die niedrig- ſte Gaſſenſprache auf die Kanzel bringt, nicht um ver- ſtanden zu werden; denn dieſe Sprache iſt auch dem Volke zu nieder, ſondern um ſich die Mühe der Vor- bereitung zu erſparen. Aber, wenn gebildete Männer unter dem Volkshaufen ſitzen? — Antwort: Kann der gebildete Mann über den Werth deiner Predigt urtheilen: ſo wird er wiſſen, daſs mehr Ver- ſtand, und oft auch mehr Sprachkenntniſs dazu gehöre, ſich mit Würde zu dem niedern Kreiſe des Volkes her- unterzulaſſen, als das Volk in eine Staubwolke unver- ſtandner Ausdrücke einzuhüllen, und mit ſich auf eine ſchwindelmachende Höhe fortzureiſſen. Kann er aber nicht urtheilen, ſo wäre es eine unverzeihliche Thor- heit für einen Boten der Wahrheit, die Wahrheit zu verdunkeln, und das hungrige Volk ohne Nahrung zu laſſen — um den Beyfall des Unverſtändigen einzuärn- ten. Iſt der gebildete Mann — edel genug, dem Pre- diger zuzuhören, nicht um den Prediger, ſondern um ſich zu richten: ſo wird ihm die einfältige Wahrheit, ohne Schmink — lieber ſeyn, als aller Redeprunk, der mit dem Schalle wie Wind dahin iſt. Hört aber der gebildete Mann nur deſshalb der Predigt zu, um nach A — oder B — eine Predigtcenfur einzuſenden: ſo den- ke du an die Freudenthräne der Wittwe, die ihr bey dem klaren Worte aus deinem Munde, ins Auge tritt,

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Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/54>, abgerufen am 29.03.2024.