Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

"Unordnung von selbst zu Boden stürzen" -- ein Be-
weis ihrer göttlichen Weisheit, deren Sonnenglanz
schon, vor dem Morgenroth der unsrigen, leuchtete.
Sie lehrt uns endlich, auf jeder Stuffe unsers sittlichen
Lebens vorwärts streben, damit wir nicht eitel; auf-
wärts schauen, damit wir nicht muthlos, und in unserm
Kreise Hand anlegen, damit wir weder gelehrte noch
frömmelnde Müssiggänger werden -- ein Beweis ih-
rer Brauchbarkeit für Menschen, die immer zwi-
schen Abgründen links und rechts wandeln, und sich
sogar verirren können, wenn sie gut werden wollen,
und selten mehr, als wenn sie weise werden wollen.

Ist einmal das wahre Wohlseyn im Innern des
Menschen gegründet: so kann das Aeussere, als eine
Frucht des Innern, nicht fehlen, oder wenn es durch
fremde Ursache entzogen wird, im Besitze des Bes-
sern -- leicht vermisst werden.

Solche Menschen, die im Guten nur das Gute,
und desshalb Gott über alles Gute liebten, und in dieser
edlen Liebe arbeiten, leiden, sterben konnten, z. B.
Paulus, Johannes u. f. f. hat freylich nieht die christ-
liche Sittenlehre ohne Christus gebildet. Aber eine
Sittenlehre, die von der Quelle isolirt ist, meyne ich
auch nicht und kann sie auch nicht meynen, und ein
blosses Buchstabenreich wird wohl keiner empfeh-
len, der ein lebendiges kennt, oder auch nur ahnt
(S. 64. 57.)

Die

„Unordnung von ſelbſt zu Boden ſtürzen“ — ein Be-
weis ihrer göttlichen Weisheit, deren Sonnenglanz
ſchon, vor dem Morgenroth der unſrigen, leuchtete.
Sie lehrt uns endlich, auf jeder Stuffe unſers ſittlichen
Lebens vorwärts ſtreben, damit wir nicht eitel; auf-
wärts ſchauen, damit wir nicht muthlos, und in unſerm
Kreiſe Hand anlegen, damit wir weder gelehrte noch
frömmelnde Müſſiggänger werden — ein Beweis ih-
rer Brauchbarkeit für Menſchen, die immer zwi-
ſchen Abgründen links und rechts wandeln, und ſich
ſogar verirren können, wenn ſie gut werden wollen,
und ſelten mehr, als wenn ſie weiſe werden wollen.

Iſt einmal das wahre Wohlſeyn im Innern des
Menſchen gegründet: ſo kann das Aeuſſere, als eine
Frucht des Innern, nicht fehlen, oder wenn es durch
fremde Urſache entzogen wird, im Beſitze des Beſ-
ſern — leicht vermiſst werden.

Solche Menſchen, die im Guten nur das Gute,
und deſshalb Gott über alles Gute liebten, und in dieſer
edlen Liebe arbeiten, leiden, ſterben konnten, z. B.
Paulus, Johannes u. f. f. hat freylich nieht die chriſt-
liche Sittenlehre ohne Chriſtus gebildet. Aber eine
Sittenlehre, die von der Quelle iſolirt iſt, meyne ich
auch nicht und kann ſie auch nicht meynen, und ein
bloſſes Buchſtabenreich wird wohl keiner empfeh-
len, der ein lebendiges kennt, oder auch nur ahnt
(S. 64. 57.)

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0107" n="93"/>
&#x201E;Unordnung von &#x017F;elb&#x017F;t zu Boden &#x017F;türzen&#x201C; &#x2014; ein Be-<lb/>
weis ihrer göttlichen <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Weisheit</hi></hi>, deren Sonnenglanz<lb/>
&#x017F;chon, vor dem Morgenroth der un&#x017F;rigen, leuchtete.<lb/>
Sie lehrt uns endlich, auf jeder Stuffe un&#x017F;ers &#x017F;ittlichen<lb/>
Lebens vorwärts &#x017F;treben, damit wir nicht <hi rendition="#i">eitel</hi>; auf-<lb/>
wärts &#x017F;chauen, damit wir nicht <hi rendition="#i">muthlos</hi>, und in un&#x017F;erm<lb/>
Krei&#x017F;e <hi rendition="#i">Hand anlegen</hi>, damit wir weder gelehrte noch<lb/>
frömmelnde Mü&#x017F;&#x017F;iggänger werden &#x2014; ein Beweis ih-<lb/>
rer <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Brauchbarkeit</hi></hi> für Men&#x017F;chen, die immer zwi-<lb/>
&#x017F;chen Abgründen links und rechts wandeln, und &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;ogar verirren können, wenn &#x017F;ie <hi rendition="#i">gut</hi> werden wollen,<lb/>
und &#x017F;elten mehr, als wenn &#x017F;ie <hi rendition="#i">wei&#x017F;e</hi> werden wollen.</p><lb/>
            <p>I&#x017F;t einmal das wahre <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">Wohl&#x017F;eyn</hi></hi> im Innern des<lb/>
Men&#x017F;chen gegründet: &#x017F;o kann das Aeu&#x017F;&#x017F;ere, als eine<lb/>
Frucht des Innern, nicht fehlen, oder wenn es durch<lb/>
fremde Ur&#x017F;ache entzogen wird, im Be&#x017F;itze des Be&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ern &#x2014; leicht vermi&#x017F;st werden.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#i">Solche</hi> Men&#x017F;chen, die im Guten nur das Gute,<lb/>
und de&#x017F;shalb Gott über alles Gute liebten, und in die&#x017F;er<lb/>
edlen Liebe arbeiten, leiden, &#x017F;terben konnten, z. B.<lb/>
Paulus, Johannes u. f. f. hat freylich nieht die chri&#x017F;t-<lb/>
liche Sittenlehre <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">ohne Chri&#x017F;tus</hi></hi> gebildet. Aber eine<lb/>
Sittenlehre, die von der Quelle i&#x017F;olirt i&#x017F;t, meyne ich<lb/>
auch nicht und kann &#x017F;ie auch nicht meynen, und ein<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;es Buch&#x017F;tabenreich wird wohl keiner empfeh-<lb/>
len, der ein lebendiges kennt, oder auch nur ahnt<lb/>
(S. 64. 57.)</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#i">Die</hi> </fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0107] „Unordnung von ſelbſt zu Boden ſtürzen“ — ein Be- weis ihrer göttlichen Weisheit, deren Sonnenglanz ſchon, vor dem Morgenroth der unſrigen, leuchtete. Sie lehrt uns endlich, auf jeder Stuffe unſers ſittlichen Lebens vorwärts ſtreben, damit wir nicht eitel; auf- wärts ſchauen, damit wir nicht muthlos, und in unſerm Kreiſe Hand anlegen, damit wir weder gelehrte noch frömmelnde Müſſiggänger werden — ein Beweis ih- rer Brauchbarkeit für Menſchen, die immer zwi- ſchen Abgründen links und rechts wandeln, und ſich ſogar verirren können, wenn ſie gut werden wollen, und ſelten mehr, als wenn ſie weiſe werden wollen. Iſt einmal das wahre Wohlſeyn im Innern des Menſchen gegründet: ſo kann das Aeuſſere, als eine Frucht des Innern, nicht fehlen, oder wenn es durch fremde Urſache entzogen wird, im Beſitze des Beſ- ſern — leicht vermiſst werden. Solche Menſchen, die im Guten nur das Gute, und deſshalb Gott über alles Gute liebten, und in dieſer edlen Liebe arbeiten, leiden, ſterben konnten, z. B. Paulus, Johannes u. f. f. hat freylich nieht die chriſt- liche Sittenlehre ohne Chriſtus gebildet. Aber eine Sittenlehre, die von der Quelle iſolirt iſt, meyne ich auch nicht und kann ſie auch nicht meynen, und ein bloſſes Buchſtabenreich wird wohl keiner empfeh- len, der ein lebendiges kennt, oder auch nur ahnt (S. 64. 57.) Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/107
Zitationshilfe: Sailer, Johann Michael: Kurzgefaßte Erinnerungen an junge Prediger. München, 1791, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sailer_prediger_1791/107>, abgerufen am 21.11.2024.