Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichte der Phytodynamik.
Lebenskraft, die nunmehr Alles erklären sollte, eben nur ein Wort
war, in welchem man alles Unerklärliche im Leben der Orga-
nismen zusammenfaßte. Die Lebenskraft wurde personificirt, und
bei den Bewegungen der Pflanzen glaubte man sie förmlich mit
Händen greifen zu können. War aber eine Erscheinung einmal
der Lebenskraft verfallen, dann gab man jede weitere Unter-
suchung auf; man verhielt sich namentlich den phytodynamischen
Erscheinungen gegenüber, wie jener Bauer, der sich die Be-
wegung der Locomotive nur durch ein darin enthaltenes Pferd
erklären konnte. Dazu kam, daß mit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts die Kenntniß des inneren Baues der Pflanzen
ihren niedrigsten Stand erreicht hatte; das einzige Strukturele-
ment, dessen Form man einigermaßen kannte, waren die abroll-
baren Spiralfasern, in deren hygroskopischen Bewegungen man
die Zuckungen der Lebenskraft mit der Spiraltendenz der Pflanze
vereinigt sah. Indem man zugleich ganze Gefäßbündel für
Spiralfasern hielt, oder doch die Gefäßbündel ganz aus solchen
bestehen ließ, sah man in ihnen die vegetabilischen Muskeln, die
sich durch Reize der verschiedensten Art contrahiren und so die
Bewegungen der Pflanzenorgane verursachen sollten, wobei man
nicht einmal bedachte, daß gerade bei den Organen, welche, wie
die der reizbaren und periodisch beweglichen Blätter, die auf-
fallendsten Bewegungen zeigen, dieser Muskel eine centrale Lage
besitzt, die ihn zu der ihm zugeschriebenen Funktion ganz unfähig
macht. Es wäre ziemlich nutzlos und ermüdend, das Gesagte
mit zahlreichen Beispielen, die sich leicht sammeln ließen, zu be-
legen; nur einige Sätze aus Link's Grundlehren der Anatomie
und Physiologie 1807 will ich anführen; sie sind besonders lehr-
reich, weil Link sich gegen die Naturphilosophie erklärte und
auf Seiten der inductiven Wissenschaft zu stehen behauptete.
Unter dem Titel: "Bewegungen der Pflanzen" behandelte er aber
die geotropischen Krümmungen, ebenso wie andere Bewegungen
mit der damals gewöhnlichen Oberflächlichkeit, um schließlich zu
finden, daß die Wachsthumsrichtung der Stämme und Wurzeln
durch eine in jeder Pflanze bestimmte Polarität bewirkt wird,

Geſchichte der Phytodynamik.
Lebenskraft, die nunmehr Alles erklären ſollte, eben nur ein Wort
war, in welchem man alles Unerklärliche im Leben der Orga-
nismen zuſammenfaßte. Die Lebenskraft wurde perſonificirt, und
bei den Bewegungen der Pflanzen glaubte man ſie förmlich mit
Händen greifen zu können. War aber eine Erſcheinung einmal
der Lebenskraft verfallen, dann gab man jede weitere Unter-
ſuchung auf; man verhielt ſich namentlich den phytodynamiſchen
Erſcheinungen gegenüber, wie jener Bauer, der ſich die Be-
wegung der Locomotive nur durch ein darin enthaltenes Pferd
erklären konnte. Dazu kam, daß mit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts die Kenntniß des inneren Baues der Pflanzen
ihren niedrigſten Stand erreicht hatte; das einzige Strukturele-
ment, deſſen Form man einigermaßen kannte, waren die abroll-
baren Spiralfaſern, in deren hygroſkopiſchen Bewegungen man
die Zuckungen der Lebenskraft mit der Spiraltendenz der Pflanze
vereinigt ſah. Indem man zugleich ganze Gefäßbündel für
Spiralfaſern hielt, oder doch die Gefäßbündel ganz aus ſolchen
beſtehen ließ, ſah man in ihnen die vegetabiliſchen Muskeln, die
ſich durch Reize der verſchiedenſten Art contrahiren und ſo die
Bewegungen der Pflanzenorgane verurſachen ſollten, wobei man
nicht einmal bedachte, daß gerade bei den Organen, welche, wie
die der reizbaren und periodiſch beweglichen Blätter, die auf-
fallendſten Bewegungen zeigen, dieſer Muskel eine centrale Lage
beſitzt, die ihn zu der ihm zugeſchriebenen Funktion ganz unfähig
macht. Es wäre ziemlich nutzlos und ermüdend, das Geſagte
mit zahlreichen Beiſpielen, die ſich leicht ſammeln ließen, zu be-
legen; nur einige Sätze aus Link's Grundlehren der Anatomie
und Phyſiologie 1807 will ich anführen; ſie ſind beſonders lehr-
reich, weil Link ſich gegen die Naturphiloſophie erklärte und
auf Seiten der inductiven Wiſſenſchaft zu ſtehen behauptete.
Unter dem Titel: „Bewegungen der Pflanzen“ behandelte er aber
die geotropiſchen Krümmungen, ebenſo wie andere Bewegungen
mit der damals gewöhnlichen Oberflächlichkeit, um ſchließlich zu
finden, daß die Wachsthumsrichtung der Stämme und Wurzeln
durch eine in jeder Pflanze beſtimmte Polarität bewirkt wird,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0602" n="590"/><fw place="top" type="header">Ge&#x017F;chichte der Phytodynamik.</fw><lb/>
Lebenskraft, die nunmehr Alles erklären &#x017F;ollte, eben nur ein Wort<lb/>
war, in welchem man alles Unerklärliche im Leben der Orga-<lb/>
nismen zu&#x017F;ammenfaßte. Die Lebenskraft wurde per&#x017F;onificirt, und<lb/>
bei den Bewegungen der Pflanzen glaubte man &#x017F;ie förmlich mit<lb/>
Händen greifen zu können. War aber eine Er&#x017F;cheinung einmal<lb/>
der Lebenskraft verfallen, dann gab man jede weitere Unter-<lb/>
&#x017F;uchung auf; man verhielt &#x017F;ich namentlich den phytodynami&#x017F;chen<lb/>
Er&#x017F;cheinungen gegenüber, wie jener <hi rendition="#g">Bauer</hi>, der &#x017F;ich die Be-<lb/>
wegung der Locomotive nur durch ein darin enthaltenes Pferd<lb/>
erklären konnte. Dazu kam, daß mit dem Ende des vorigen<lb/>
Jahrhunderts die Kenntniß des inneren Baues der Pflanzen<lb/>
ihren niedrig&#x017F;ten Stand erreicht hatte; das einzige Strukturele-<lb/>
ment, de&#x017F;&#x017F;en Form man einigermaßen kannte, waren die abroll-<lb/>
baren Spiralfa&#x017F;ern, in deren hygro&#x017F;kopi&#x017F;chen Bewegungen man<lb/>
die Zuckungen der Lebenskraft mit der Spiraltendenz der Pflanze<lb/>
vereinigt &#x017F;ah. Indem man zugleich ganze Gefäßbündel für<lb/>
Spiralfa&#x017F;ern hielt, oder doch die Gefäßbündel ganz aus &#x017F;olchen<lb/>
be&#x017F;tehen ließ, &#x017F;ah man in ihnen die vegetabili&#x017F;chen Muskeln, die<lb/>
&#x017F;ich durch Reize der ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Art contrahiren und &#x017F;o die<lb/>
Bewegungen der Pflanzenorgane verur&#x017F;achen &#x017F;ollten, wobei man<lb/>
nicht einmal bedachte, daß gerade bei den Organen, welche, wie<lb/>
die der reizbaren und periodi&#x017F;ch beweglichen Blätter, die auf-<lb/>
fallend&#x017F;ten Bewegungen zeigen, die&#x017F;er Muskel eine centrale Lage<lb/>
be&#x017F;itzt, die ihn zu der ihm zuge&#x017F;chriebenen Funktion ganz unfähig<lb/>
macht. Es wäre ziemlich nutzlos und ermüdend, das Ge&#x017F;agte<lb/>
mit zahlreichen Bei&#x017F;pielen, die &#x017F;ich leicht &#x017F;ammeln ließen, zu be-<lb/>
legen; nur einige Sätze aus <hi rendition="#g">Link</hi>'s Grundlehren der Anatomie<lb/>
und Phy&#x017F;iologie 1807 will ich anführen; &#x017F;ie &#x017F;ind be&#x017F;onders lehr-<lb/>
reich, weil <hi rendition="#g">Link</hi> &#x017F;ich gegen die Naturphilo&#x017F;ophie erklärte und<lb/>
auf Seiten der inductiven Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zu &#x017F;tehen behauptete.<lb/>
Unter dem Titel: &#x201E;Bewegungen der Pflanzen&#x201C; behandelte er aber<lb/>
die geotropi&#x017F;chen Krümmungen, eben&#x017F;o wie andere Bewegungen<lb/>
mit der damals gewöhnlichen Oberflächlichkeit, um &#x017F;chließlich zu<lb/>
finden, daß die Wachsthumsrichtung der Stämme und Wurzeln<lb/>
durch eine in jeder Pflanze be&#x017F;timmte Polarität bewirkt wird,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[590/0602] Geſchichte der Phytodynamik. Lebenskraft, die nunmehr Alles erklären ſollte, eben nur ein Wort war, in welchem man alles Unerklärliche im Leben der Orga- nismen zuſammenfaßte. Die Lebenskraft wurde perſonificirt, und bei den Bewegungen der Pflanzen glaubte man ſie förmlich mit Händen greifen zu können. War aber eine Erſcheinung einmal der Lebenskraft verfallen, dann gab man jede weitere Unter- ſuchung auf; man verhielt ſich namentlich den phytodynamiſchen Erſcheinungen gegenüber, wie jener Bauer, der ſich die Be- wegung der Locomotive nur durch ein darin enthaltenes Pferd erklären konnte. Dazu kam, daß mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die Kenntniß des inneren Baues der Pflanzen ihren niedrigſten Stand erreicht hatte; das einzige Strukturele- ment, deſſen Form man einigermaßen kannte, waren die abroll- baren Spiralfaſern, in deren hygroſkopiſchen Bewegungen man die Zuckungen der Lebenskraft mit der Spiraltendenz der Pflanze vereinigt ſah. Indem man zugleich ganze Gefäßbündel für Spiralfaſern hielt, oder doch die Gefäßbündel ganz aus ſolchen beſtehen ließ, ſah man in ihnen die vegetabiliſchen Muskeln, die ſich durch Reize der verſchiedenſten Art contrahiren und ſo die Bewegungen der Pflanzenorgane verurſachen ſollten, wobei man nicht einmal bedachte, daß gerade bei den Organen, welche, wie die der reizbaren und periodiſch beweglichen Blätter, die auf- fallendſten Bewegungen zeigen, dieſer Muskel eine centrale Lage beſitzt, die ihn zu der ihm zugeſchriebenen Funktion ganz unfähig macht. Es wäre ziemlich nutzlos und ermüdend, das Geſagte mit zahlreichen Beiſpielen, die ſich leicht ſammeln ließen, zu be- legen; nur einige Sätze aus Link's Grundlehren der Anatomie und Phyſiologie 1807 will ich anführen; ſie ſind beſonders lehr- reich, weil Link ſich gegen die Naturphiloſophie erklärte und auf Seiten der inductiven Wiſſenſchaft zu ſtehen behauptete. Unter dem Titel: „Bewegungen der Pflanzen“ behandelte er aber die geotropiſchen Krümmungen, ebenſo wie andere Bewegungen mit der damals gewöhnlichen Oberflächlichkeit, um ſchließlich zu finden, daß die Wachsthumsrichtung der Stämme und Wurzeln durch eine in jeder Pflanze beſtimmte Polarität bewirkt wird,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/602
Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/602>, abgerufen am 28.04.2024.